Die Mission des Wanderchirurgen
versuchte, sich in Vitus’ Lage zu versetzen, und wurde plötzlich ebenfalls wehmütig. »Ja«, sagte er leise, »das kann sie nun nicht mehr. Ich hoffe nur, dass Vitus das nicht zum Nachteil gereicht.«
»Das hoffe ich auch«, nickte der Abt. »Das hoffe ich auch.«
Drei Tage später, am Morgen kurz nach der Terz, klopfte es gegen das alte Nordtor von Campodios. Bruder Castor schreckte aus dem Land der Träume auf. Er blickte sich um, doch er tat es mehr mechanisch, denn mit seiner Sehkraft war es seit langem nicht zum Besten bestellt. Hatte da jemand Einlass begehrt? Vielleicht, vielleicht auch nicht … Einen Wimpernschlag später sank ihm das Haupt wieder auf die Brust.
Abermals klopfte es. Nun mit einer Stärke, die keinen Zweifel mehr aufkommen ließ. Da war jemand! Mühsam erhob sich Castor und schob den schweren Riegel zurück. Das Tor schwang ächzend auf.
»Pax Domini vobiscum«,
krächzte er den schemenhaften Gestalten entgegen, »was ist euer Begehr?«
»Erkennst du mich nicht, Bruder Castor?«, fragte eine frische, männliche Stimme.
»Nein, ja … äh, ich kann nicht alle kennen.« Castor war es peinlich, dass seine Augen ihn von Jahr zu Jahr mehr im Stich ließen, allerdings nicht so peinlich, dass er die ihm schon häufig von Pater Thomas angebotene Star-Operation in Anspruch genommen hätte.
»Ich merke schon, das graue Fell macht dir schwer zu schaffen, Bruder. Ich bin Vitus.«
»Vitus? Vitus! Bist du es wirklich? Entschuldige! Nun, du musst verstehen, die Sonne ist noch nicht durchgekommen, das Licht ist noch schwach, und man kann nicht vorsichtig genug sein …«
»Sicher, sicher. Das hier ist ein guter Freund von mir, Ramiro García, und das der Zwerg Enano mit seinem Töchterchen Nella.«
»Natürlich! Ich sehe euch, meine Kinder.« Castor kniff die Augen zusammen. »Und wer ist der Junge da neben dem Zwerg?«
»Das ist kein Junge. Das ist Bartmann, unsere Ziege, die dafür sorgt, dass Klein-Nella nicht verhungert. Was ist? Lässt du uns nun ein?«
»Aber ja, aber ja. Folgt mir. Abt Gaudeck ist oben in seinem Studierzimmer.« Der alte Torwächter schloss die Pforte und stapfte eilig voraus. Er kannte hier jeden Stein, so dass sein schwaches Augenlicht ihn nicht behinderte. Eigentlich hätte er auf seinem Posten bleiben müssen, aber er wollte es sich nicht nehmen lassen, das freudige Ereignis persönlich anzukündigen.
Oben vor dem Studierzimmer legte er den Finger an die Lippen. »Pst! Der Abt ist zur Zeit sehr beschäftigt. Die Astronomie, müsst ihr wissen. Normalerweise lässt er sich bis zur Sext nicht stören und nimmt danach mit allen Brüdern im Refektorium das Mittagsmahl ein.«
»Schon recht.« Vitus wurde leicht ungeduldig. »Ich bin überzeugt, er wird einen Augenblick Zeit für uns erübrigen.«
Castor pochte gegen die Holztür und öffnete sie gleichzeitig einen Spalt breit. »Abt Gaudeck, Bruder! Du wirst staunen, wen ich dir hier bringe.«
»Abt Gaudeck holt gerade Auripigment.« Die Stimme gehörte Thomas, der sich in diesem Moment erhob und zur Tür kam. »Er braucht es, um die Sterne auf seinen Karten gelb einzufärben. Wen bringst du de … Allmächtiger! Vitus! Bist du es wirklich?« Der große, asketische Mönch trat zwei Riesenschritte vor und schloss Vitus in die Arme. »Nach so langer Zeit bist du endlich wieder daheim, ich kann es nicht fassen!«
Er gab seinen ehemaligen Adlatus wieder frei und wandte sich dem kleinen Gelehrten zu. »Und da haben wir den Herrn Magister, an Euch erinnere ich mich genau. Geht es Euch gut?«
»Es könnte nicht besser sein, Pater.«
»
Deo gratias!
Und wen haben wir da?«
»Bin der Kreipel Enano, Hagermann, un das is mein Schäfchen, Nella mit Namen. Bartmann ham wir draußen gelassen, mampft’n Büschel Grünweher, die Gute.«
»Ich verstehe nicht …«
»Gelobt sei Jesus Christus!« Eine mächtige Stimme auf dem Gang übertönte alles. Sie gehörte Abt Gaudeck, der zurückgekommen war. Neben ihm stand Cullus, der eine Marmorplatte mit mehreren eingelassenen Tintenfässern trug, darunter eines voll Auripigment. »Vitus, wie haben wir alle auf dich gewartet! Lass dich begrüßen!«
»Ja, wie haben wir alle auf dich gewartet!«, strahlte auch Cullus.
Nacheinander hieß der Abt alle Gefährten willkommen und hatte sogar ein paar Worte für die kleine Nella übrig, was besonders dem Zwerg zu gefallen schien. Dann sagte er, auf das Zeitglas an der Wand deutend: »Wir haben noch eine knappe Stunde bis zum
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