Die Mission des Wanderchirurgen
Navarra. In der Nähe von unserem Dorf sind sie von Wegelagerern überfallen worden. Alle seien tot, aber sie habe überlebt, schwer verletzt. Dann habe sie sich mit letzter Kraft zum Kloster geschleppt und das Kind abgelegt. Das alles erzählte sie. Etwas später tat sie ihren letzten Atemzug, und wir mussten ihr vorher versprechen, sie in dem Gärtchen hinterm Haus zu begraben, und schwören mussten wir bei der heiligen Mutter, niemals etwas darüber zu verraten. Niemals. »Der Schande wegen«, sagte sie. »Ich habe mich mein ganzes Leben dran gehalten. Doch heute, wo ich den eigenen Tod spüre, kann ich nicht länger schweigen. Lady Jean liegt in nicht geweihter Erde, und ich bin schuld daran. Ich habe große Sünde auf mich geladen. Möge Gott mir verzeihen und mich in sein Himmelreich aufnehmen. Er ist mein Zeuge. Alles, was ich gesagt habe, ist wahr.«
Es folgten die von der alten Tonia selbst gekritzelten Kreuze als Unterschrift, dazu unter dem Wort
Testes
die Namenszüge der Zeugen Gaudeck und Thomas, jeweils mit ihrem persönlichen Siegel, dazu das Siegel des Ordens mit der Inschrift
OrdCist
.
Monasterium Campodios
, dem Datum und der Ortsangabe Punta de la Cruz.
Vitus wollte das Blatt zurückgeben, aber Gaudeck wehrte ab. »Es ist ein offizielles Dokument, und es ist deines. Es kann dir bei der Anerkennung deiner Abstammung von großem Nutzen sein.«
»Seid Ihr sicher, Ehrwürdiger Vater?«
»Nun ja, ich hoffe es zumindest.«
Der Magister nahm seine Berylle ab und griff nach dem Protokoll. »Du gestattest doch? Danke.« Das Papier dicht vor seine kurzsichtigen Augen haltend, studierte er den Inhalt und legte dabei besonderen Wert auf die Begutachtung der Unterschriften und Siegel. »Das Dokument ist über jeden Zweifel erhaben!«, verkündete er schließlich. »Die Beweiskette ist hiermit endgültig geschlossen. Hochwürdiger Abt, ehrwürdige Pater, liebe Freunde: Wir haben einen Lord unter uns!« Er beugte das Knie, wie es bei Hofe üblich ist, und blinzelte heftig. Diesmal jedoch nicht aus Sehschwäche, sondern weil ihm der Schalk im Nacken saß. »Mylord, es ist mir eine große Ehre, Euch zu kennen, darf ich weiter ›Vitus‹ und ›du‹ sagen?«
Vitus lachte. »Natürlich, du Unkraut, und versuche ja nicht, mich zu verunsichern. Alles bleibt beim Alten. Im Übrigen bin ich kein Lord, solange mich Königin Elisabeth, der ein langes Leben bei bester Gesundheit beschieden sein möge, nicht mit der Peerswürde ausgezeichnet hat.«
»Reine Formsache.« Der kleine Gelehrte winkte ab. »Was mich aber besonders freut, ist, dass unser gemeinsamer Freund Hornstaple sich das nächste Mal die Zähne ausbeißen wird, wenn er dir dein Erbe streitig machen will. Seinen Spitzfindigkeiten, man könne Lady Jeans Säugling vor dem Klostertor vertauscht haben oder, noch abstruser, Lady Jean müsse gar nicht vor dem Tor erschienen sein, es könne sich auch um eine andere Mutter gehandelt haben, mit einem anderen Kind, die sich nur des gestohlenen roten Damasttuches bediente, und so weiter und so weiter – diesem ganzen Unsinn ist jetzt ein für alle Mal der Boden entzogen worden.«
»Deo gratias!«,
kam es laut von den Pergamentrollen her. Auf Cullus hatte in den letzten Minuten niemand geachtet, und so war es auch nicht aufgefallen, dass er seit geraumer Weile seine Bemühungen, die Pergamentrollen zu entstauben, eingestellt hatte. »Meint Ihr nicht, Ehrwürdiger Vater, diese frohe Erkenntnis sei einen kühlen Trunk wert? Um Verwechslungen vorzubeugen, ich spreche nicht von Wasser.«
Gaudeck musste schmunzeln, ob er wollte oder nicht. Cullus mit seinem treuherzigen, kauzigen Verhalten konnte niemand lange gram sein. »In Gottes Namen, hole uns Wein!«, rief er. »Aber nicht mehr als eine halbe Kanne.«
Und Thomas fügte hinzu: »Denke an die Gicht in deiner großen Zehe.«
Doch das hatte Cullus schon nicht mehr gehört. Im Nu war er verschwunden, und genauso schnell wieder da. Als jeder seinen Schluck Wein im Becher hatte, sagte der Abt: »Ich kann mich nicht daran erinnern, jemals einen Tropfen vor der Sext getrunken zu haben, aber sei es, wie es sei, Gott weiß, dass wir einen Grund dafür haben.
Bene tibi!«
»Salute! Cheers! Lecháim!«
Sie tranken, und Gaudeck wollte gerade nach den Erlebnissen der Freunde fragen, als Nella zu plärren begann. Warum, wusste niemand der Freunde zu sagen, da sie gewöhnlich ein sehr ruhiges, genügsames Kind war. Vielleicht lag es einfach daran, dass alle zu trinken
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