Die Mission des Wanderchirurgen
darauf?«
»Wieso nicht? Das wäre doch ganz normal.«
»Ja, ganz normal. Vielleicht hast du Recht.« Vitus biss sich auf die Lippen. Warum fragte sie ihn so etwas? Wollte sie ihm damit zeigen, wie egal es ihr war, ob er eine Frau hatte oder nicht? Er beschloss, nicht darauf einzugehen. »Es gibt Augensalbe gegen die verschiedensten Krankheiten«, sprach er weiter, »unter anderem gegen Krätze, gegen Triefen, gegen Rauheit und gegen Entzündungen. Bei letztgenannten Beschwerden kommt häufig ein Bleipflaster in den Trägerstoff Wachs, dazu Alaun und Arnika.«
»Aha«, sagte Nina.
Die weitere Lektion zog sich dahin. Vitus gab sich alle Mühe, seine Schülerin für die Salben und ihre Anwendung zu interessieren, aber es war vergebens. Nina war und blieb einsilbig. Schließlich war die Zeit vorbei, und Vitus räumte seine Sachen zusammen. Als sie sich verabschiedeten, fasste er sich ein Herz und fragte sie, ob er sie noch ein Stück Weges begleiten dürfe, und zu seiner großen Freude stimmte sie nach kurzem Zögern zu.
Wenig später gingen sie wieder durch das Nordtor hinaus, hangabwärts in Richtung Punta de la Cruz, und Vitus überlegte hin und her, wie er es am gescheitesten anstellen könne, sie nach dem Grund für ihre offenkundige Veränderung zu fragen. Doch letztlich brachte er nur eines hervor: »Es sieht nach einem Gewitter aus. Du musst dich eilen, damit du rechtzeitig nach Hause kommst.«
»Ja«, entgegnete sie. »Mutter geht es besser, aber es gibt immer noch manches, was ich ihr abnehmen muss.«
Schweigend gingen sie weiter, bis plötzlich dicke Regentropfen vom Himmel fielen und auf den Boden klatschten. Gleichzeitig setzten starke Windböen ein. Nina flogen die Röcke hoch und sie versuchte, den Stoff mit den Händen zu bändigen. Vitus blickte besorgt zum Himmel und sah, dass sich über ihnen eine dicke schwarze Wand wölbte. In der Ferne zuckte ein Blitz, gefolgt von einem grollenden Donner. »Komm!«, rief er, »wir stellen uns unter die Eiche dort. Komm rasch, du wirst sonst ganz nass!«
Gemeinsam hasteten sie unter die Krone des Baumes, deren erstes Grün leidlichen Schutz versprach. Aus den dicken Tropfen war mittlerweile ein steter, prasselnder Regenstrom geworden. Kühle umfing sie. Vitus versuchte einen Scherz: »So ein Blätterdach ersetzt den besten Schirm!«, doch Nina war nicht zum Lachen zumute.
Er fragte: »Ist dir kalt?«
Sie schüttelte den Kopf.
Eine Weile standen sie so da und beobachteten das Gewitter. Es schüttete weiter wie aus Eimern, und Blitz und Donner rückten rasch näher.
»Du kannst gerne mein Wams haben, wenn dir kalt ist, Nina.«
»Mir ist nicht kalt.« Ihre Worte waren Unsinn, denn sie fröstelte ganz offensichtlich.
Vitus begann sich über sie zu ärgern. Wie stur sie war! Dabei hatte er ihr doch gar nichts getan. Ohne länger zu überlegen, zog er sein Wams aus und legte es ihr um die Schulter. »Sage jetzt ja nicht, du brauchtest es nicht. Du nimmst es und behältst es an.«
»Ja, Vitus.« Sie schien jetzt folgsam wie ein kleines Mädchen.
»Ist es so besser?«
»Ja, Vitus.«
»Schön.« Er holte Luft und wollte etwas sagen, wie: »Nun brauchen wir nur noch abzuwarten, bis alles vorbei ist«, doch dazu kam es nicht, denn ein ohrenbetäubender Donner direkt über ihren Köpfen ließ sie zusammenfahren. Nina schrie auf und drängte sich an ihn. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sie zu umfangen. Er tat es in der Hoffnung, sie möge es geschehen lassen, denn natürlich verlangte der Anstand es, sie sofort wieder freizugeben. Aber jetzt donnerte es erneut, und Nina presste sich noch enger an ihn. Feiner, betörender Duft nach Rosenöl entströmte ihrem Haar. Sie blickte zu ihm hoch, erst verstört, dann mehr und mehr lächelnd. In ihren Pupillen blitzten die bernsteinfarbenen Sprenkel auf, und sie sagte: »Es wurde auch höchste Zeit, dass so ein Gewitter kommt, findest du nicht?«
»Wieso?«, krächzte er.
»Weil du mich sonst wohl nie in die Arme genommen hättest.«
»Ach so.« Er lachte verlegen. »Wahrscheinlich bin ich die ganze Zeit ziemlich blind herumgelaufen.«
»Das bist du.« Sie schloss die Augen.
Da beugte er sich herab und küsste sie auf den Mund.
Es war ein Kuss, wie er ihn nie zuvor gegeben und nie zuvor erlebt hatte. Er war sacht und zärtlich und doch voller Glut, ein Kuss, der sein Innerstes auflodern ließ, der ihn gleichermaßen überraschte und verwirrte. »Nina, o Nina«, hörte er sich stammeln, während er sie
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