Die Mission des Wanderchirurgen
auch schon mit deinem Vater darüber geredet. Wir sind aber wieder davon abgekommen, weil wir uns nicht denken konnten, in wen. Wer ist es denn?«
»Das kann ich nicht sagen.«
Ana begann wieder ihre Tochter zu streicheln. »Also stimmt meine Vermutung. Du bist verliebt. Und wenn ich dich so angucke, ziemlich unglücklich. Deshalb sage ich dir, wer immer es auch ist: Schlage ihn dir aus dem Kopf. Wahrscheinlich ist er es sowieso nicht wert.«
»Doch, das ist er! Er ist der edelste, klügste Mensch, den ich jemals kennen gelernt habe.«
»Wer könnte das sein? Deine Beschreibung trifft auf niemanden in der Nachbarschaft zu.«
»Er ist auch nicht aus der Nachbarschaft.«
Ana unterbrach ihr Streicheln. »Nicht aus der Nachbarschaft? Mein Gott, Kind, nun sage doch endlich, wer es ist!«
»Es ist … es ist Vitus.«
»Vitus?« Ana brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, wen ihre Tochter meinte. Dann lachte sie leise auf. »Vitus, der Cirurgicus? Du machst Witze, Kind. Vitus ist doch erst seit ein oder zwei Tagen zurück. Anderenfalls wäre er dir doch in Campodios begegnet. Wie willst du dich in der kurzen Zeit in ihn verliebt haben?«
»Es ist Vitus, und er ist schon seit drei Wochen im Kloster. Ich liebe ihn, aber er liebt mich nicht.« Nachdem Nina den Namen preisgegeben hatte, schienen bei ihr alle Dämme zu brechen. Sie erzählte ausführlich, was sich zugetragen hatte, und Ana hörte stillschweigend zu.
Als Nina schließlich geendet hatte, drückte sie ihre Tochter an sich und seufzte schwer. »Mein armes Kind, du tust mir so Leid. Vitus ist zwar ein prächtiger junger Mann, wie geschaffen für dich, aber er lebt in England und, wie man hört, sogar in einem richtigen Schloss. Gewiss wird er bald dahin zurückkehren. Vergiss ihn, wenn du kannst.«
»Aber ich liebe ihn doch, Mutter, ich liebe ihn so sehr!« Wieder begann Nina hemmungslos zu weinen.
Und diesmal gelang es Ana nicht, sie zu trösten.
»Der ideale Arzt stellt seine Medikamente selber her«, sagte Vitus. »Das gilt auch für die Salben, besonders die Augensalben. Ich habe dir heute ein
unguentum
mitgebracht, das allerdings kaum danach aussieht. Hier.«
Er hielt einen Gegenstand hoch, der einer wachsartigen Stange glich. Eine Inschrift war hineingepresst, die lautete:
VITUS SEPLASIUM AD CLARITATEM OCULI
Nina murmelte: »Vitus’ Salbe für die Klarheit des Auges.«
»Richtig«, sagte er.
»Aber wie trägt man diese Salbe auf? Das Zeug ist doch gar nicht flüssig?«
»Stimmt. Es ist hart, damit man es besser mit sich führen kann. Ein flüssiges Augenmittel verlangt nach einem verschließbaren Behältnis, und Verschlüsse können aufgehen. Das kann dir bei einem solchen Kollyrium nicht passieren. Nun zu der Frage, wie man es anwendet: Man bricht einfach ein Stück ab und löst es in Eiweiß auf. Wenn du genau hinsiehst, entdeckst du hier am Rand noch zwei weitere Wörter: EX OVO .«
»So etwas habe ich noch nie gesehen.«
»Das wundert mich nicht. In alter Zeit war es gang und gäbe, Kollyrien zu verwenden, aber heute gibt es kaum noch Ärzte, die welche mit sich führen. Ich bin eine Ausnahme.« Er nahm eine zweite Wachsstange und hielt sie ihr hin, in der Hoffnung, sie würde mit dem Kopf näher kommen. Doch sie bewegte sich nicht und fragte stattdessen:
»Wann fährst du zurück nach England?«
»Zurück nach England? Wie kommst du denn jetzt darauf?« In der Tat hatte er schon ein paarmal mit dem Gedanken gespielt, die lange Reise zur Britannischen Insel anzutreten, ihn aber immer wieder hintangestellt. Wenn er ehrlich war, musste er einräumen, dass der Grund dafür neben ihm saß und Nina hieß.
Es war jetzt über eine Woche her, dass er Anas Magenkatarrh konstatiert hatte, und gottlob ging es ihr schon viel besser. Aber er hatte den Eindruck, dass seitdem mit ihrer Tochter eine Veränderung vorgegangen war. Sie wirkte nicht mehr so natürlich, irgendwie unnahbar und verschlossen. Er hätte nicht zu sagen vermocht, worin genau sich das äußerte, dennoch war er sicher, dass seine Beobachtung stimmte.
»Wann?«
»Bitte? Ach so, du fragtest, wann ich nach England zurückfahren werde. Nun, um ehrlich zu sein, ich habe es nicht so eilig. Die Lektionen mit dir machen mir viel zu viel Freude.« Mit seinem letzten Satz hoffte er, sie ein wenig aus der Reserve zu locken, doch sie reagierte nicht.
»Sicher fährst du bald ab. Ich vermute, in England wartet eine Frau auf dich.«
»Eine Frau? Wie kommst du denn
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