Die Mission des Wanderchirurgen
wieder, und er war halb verhungert, denn seit über einem Monat versah er den Frondienst im Leib der Galeere. Sein Gedärm war durch die Mangelernährung so geschrumpft, dass er das Gefühl hatte, sein Magen würde sich selbst verdauen.
Den anderen Männern erging es nicht besser. Ngongo, einst kraftstrotzend, war nur noch ein Schatten seiner selbst, und auch der Magister, dessen zäher Körper Monate im Kerker der Inquisition durchgestanden hatte, machte einen todesmatten Eindruck. Die beiden Männer, die zwischen ihm und Vitus saßen, litten nicht weniger. Der eine, Alb gerufen, hieß eigentlich Albert und kam aus dem Kurfürstentum Brandenburg in Deutschland, der andere hörte auf den Namen Wessel und stammte aus dem Königreich Böhmen. Ihre Sitzanordnung ergab sich aus den Ruderanforderungen: Zur Schiffsmitte hin saß immer der Größte – in diesem Fall Ngongo –, weil dort das Langruder am weitesten vor- und zurückbewegt werden musste. Alle zusammen bildeten sie die dritte Steuerbordbank, was bedeutete, dass vor ihnen noch zwei Bänke waren und hinter ihnen fünfundzwanzig.
Wieder lag ein Tag der Erfolglosigkeit hinter ihnen. Mehmet Pascha hatte stundenlang westlich des Dschebel al-Tarik Ausschau gehalten, aber nichts gesichtet, was des Kaperns wert gewesen wäre. Seine Laune war dadurch nicht besser geworden. Selbst Enano, der persönliche Lachmuskelerwecker des Kommandanten, hatte daran nichts zu ändern vermocht. Enano, der Winzling. Wenn er nicht gewesen wäre, hätte alles noch düsterer ausgesehen. So aber gelang es dem Zwerg wenigstens manchmal, Vitus und seinen Getreuen etwas Essbares zuzustecken. Und wenn es nur eine Feige war.
»Wie lange noch bis Tanger?«, hörte Vitus Wessel neben sich fragen. Die Stimme des Böhmen war kaum wahrnehmbar, nicht nur aus Atemnot, sondern auch, weil während des Ruderns strengstes Sprechverbot herrschte. Gleiches galt für Jammern oder Stöhnen. Wer sich nicht daran hielt, riskierte, dass ihm die Zunge bei lebendigem Leibe herausgeschnitten wurde. Alb, der zwischen Wessel und dem Magister saß, war es so ergangen. Drei Monate lag es erst zurück, dass Mehmet Pascha, an jenem Tage wieder unter Zahnschmerzen leidend, ein Exempel statuieren wollte und den Zungenschnitt vor versammelter Mannschaft durchführen ließ. Eine Zeit lang hatte das tatsächlich gewirkt, die Ruderer hatten stumm und mit zusammengebissenen Zähnen ihre kräftezehrende Arbeit bewältigt. Doch der Mensch ist nicht zum Schweigen erschaffen, und nach wenigen Tagen wurde, trotz der damit verbundenen Gefahr, wieder das eine oder andere Wort gewechselt.
»Nur noch ein, zwei Meilen.« Vitus sprach ebenfalls kaum hörbar, dennoch war er bemüht, frisch und aufmunternd zu klingen. Wessel ging es schlecht. Er war zwar in den besten Jahren, aber er hatte nicht mehr die Widerstandskraft eines jungen Mannes. Vitus ahnte, dass er jeden Moment zusammenbrechen konnte, und das musste um jeden Preis verhindert werden. Denn wer nachließ oder gar das Rudern ganz einstellte, schmeckte sofort die Neunschwänzige.
»Nur noch ein, zwei Meilen«, murmelte Vitus abermals.
»O Allah, Du Gnädiger, Du Erfüllender, warum tust Du Mehmet Pascha das an? Habe ich meine Gebete nicht immer pünktlich gesprochen? Habe ich Dein Wort nicht immer lobpreist? Nun ja, ich gebe zu, vielleicht habe ich in der Vergangenheit ein- oder zweimal vergessen, den Teppich auszurollen, aber ist das gleich ein Grund, mir nicht eine dieser schönen, fetten Schatzgaleonen zu schicken?«
Der Kommandant stand auf der Poop und haderte mit seinem Schöpfer. Der Monat Juni war bereits hereingebrochen, und mit jedem Tag, den Allah werden ließ, wurde die Wahrscheinlichkeit geringer, dass noch eines der begehrten Schiffe auftauchte. Gewiss, Mehmet Pascha hätte es auch schon im März oder April versuchen können, aber da wäre die Gefahr viel zu groß gewesen, es gleich mit einer ganzen Armada von Schatzschiffen aufnehmen zu müssen. Die Hunde fuhren stets im Konvoi. Nein, es war schon besser, auf die Nachzügler zu warten, denn die gab es immer. Das war so sicher, wie im Osten die heilige Stadt Mekka lag. Irgendwann würde ein Segel an der Kimm auftauchen, zugehörig zu einem jener Schatzfahrer, die drüben in Neu-Spanien den Hafen Nombre de Dios angelaufen hatten, um sich dort bis unters Schanzkleid mit Gold, Silber und Juwelen voll zu stopfen und sich anschließend über Kuba auf den beschwerlichen Heimweg nach Sevilla zu machen.
Einer,
Weitere Kostenlose Bücher