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Die Mission des Wanderchirurgen

Die Mission des Wanderchirurgen

Titel: Die Mission des Wanderchirurgen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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sie mir gibst. Nun gib schon her! Ist sie auch wirklich noch ganz?«
    Hastig griff Sîdi Moktar nach dem Vergrößerungsglas und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Kurz danach jedoch einen gotteslästerlichen Fluch. Den Seufzer stieß er aus, weil das Glas heil geblieben, den Fluch, weil es blind geworden war. Die Gerbsäure hatte ganze Arbeit geleistet. »Oh, ihr saumseligen Nichtsnutze, hat Allah eure Augen mit Sand geblendet, schlaft ihr am helllichten Tag? Warum habt ihr mein Kleinod nicht früher herausgeholt? Jetzt ist es verdorben!«
    In das betretene Schweigen hinein traute Alî ibn Abu sich als Erster etwas zu sagen: »Herr, ich versichere dir, du brauchst das Gerät nicht. Meine Ware ist so makellos, dass sie eine Kontrolle überflüssig macht. So beruhige dich doch.«
    Doch der zierliche Handelsherr war untröstlich.
    »Vielleicht kann ich dir helfen.« Vitus trat vor und stellte seine Kiepe auf dem Boden ab.
    »Du?« Sîdi Moktar löste sich nur langsam aus der Umklammerung seines Schmerzes. »Mir helfen? Wer bist du überhaupt?«
    »Mein Name ist Vitus von Campodios. Ich bin Cirurgicus, auch wenn mein momentaner Aufzug dies kaum vermuten lässt.«
    »Da hast du zweifellos Recht. Ebenso wie dein blondes Haar kaum auf arabische Wurzeln hindeutet.«
    Vitus musste schmunzeln. Sein Gegenüber verfügte über beißenden Witz. »Ich bin Engländer, Herr.« Er zögerte kurz, bevor er fortfuhr: »Ein übel meinendes Schicksal hat mich und meine fünf Freunde nach Fez verschlagen.«
    »So, hat es das?« Sîdi Moktar musterte kurz die zerlumpten Gestalten, die der Cirurgicus – wenn er denn einer war – als seine Begleitung vorgestellt hatte. »Du sagtest, du könntest mir vielleicht helfen. Wie hast du das gemeint?«
    Statt einer Antwort öffnete Vitus seine Kiepe, holte zunächst allerlei persönliche Dinge hervor, wie Seifenkraut und Rasierzeug, und zog endlich seinen Instrumentenkasten ans Licht. Er klappte ihn auf und hörte über sich einen erstaunten Ausruf. Der zierliche Handelsherr hatte die blitzenden Skalpelle, die Sonden und Spatel, die vielen Nadeln, Sägen, Haken, Zangen und Lanzetten entdeckt.
    »Jetzt glaube ich, dass du ein Hakim bist«, rief er. »Aber meine Lupe ist kein menschliches Auge, das der Arzt durch einen Stich vom grauen Schleier befreien kann!«
    Vitus antwortete nicht und nahm stattdessen die oberste Instrumenteneinlage heraus. Darunter wurden weitere Werkzeuge sichtbar: Kauter, Feilen, Sägen und Trepane. Und – eine Glaslinse. Er ergiff sie und gab sie dem zierlichen Mann in die Hand. »Du sagst es, Sîdi Moktar, ein Cirurgicus muss seine Grenzen kennen, und weil ich das tue, will ich gar nicht erst versuchen, deine Lupe zu reparieren. Hier, nimm meine, sie ist zwar nicht ganz so groß wie deine, dennoch hat sie mir immer gute Dienste geleistet.«
    Der zierliche Handelsherr stand da und konnte es nicht fassen. Eben noch vom Pech gebeutelt, nun schon wieder im Glück, hatte es ihm die Sprache verschlagen. Ohne es zu merken, wiederholte er ein ums andere Mal die Worte des Cirurgicus: »… Grenzen kennen … reparieren … Dienste geleistet …«
    Vitus musste lachen. »Ja, die Lupe ist beste Londoner Handwerksarbeit, sie stammt aus der Glasschleiferei Thyrwitt & Sons und hat sich als sehr hilfreich erwiesen, wenn es darum geht, kleine Knochensplitter in einem offenen Bruch zu erkennen.«
    Sîdi Moktar hatte sich wieder gefangen. So unverhofft sein Glück war, so ausgeprägt war sein Sinn fürs Geschäft. Und als erfolgreicher Handelsherr wusste er, dass nichts auf der Welt umsonst ist. »Was willst du für diese Lupe haben, die ich, wenn ich es mir recht überlege, eigentlich gar nicht brauche«, sagte er.
    Vitus lachte. Er war lange genug in Tanger gewesen, um zu wissen, zu was sein zierliches Gegenüber sich nun anschickte: zu einem langen, zähen Feilschen. Doch er hatte nicht die Absicht, das mitzumachen. Jedenfalls nicht lange. »Die Glasschleiferei Thyrwitt & Sons genießt einen untadeligen Ruf. Du wirst in ganz Europa keine bessere Lupe finden«, erwiderte er. »Schau nur hindurch, und du wirst feststellen, dass sie jeden Gegenstand klar und deutlich vergrößert – ganz ohne Verzerrungen.«
    »Schön, schön. Ich sagte aber, dass ich sie wahrscheinlich gar nicht brauche. Mein Freund Alî ibn Abu hat eben selbst erklärt, seine Ware sei makellos. Er kann es sich nicht leisten, mich zu täuschen.«
    Vitus lachte erneut. Nicht herausfordernd, sondern einfach

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