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Die Mission des Wanderchirurgen

Die Mission des Wanderchirurgen

Titel: Die Mission des Wanderchirurgen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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komme!‹, rief ich, und dann war ich bei ihr. Sie stolperte aus irgendeinem Grund, und ich konnte sie gerade noch auffangen. In diesem Moment war ich der glücklichste Mensch auf Gottes weiter Welt.
    Tja, so war das, als wir uns wiedertrafen. Mittlerweile ist viel Zeit verstrichen, und Arlette ist tot, dahingerafft von der verfluchten Geißel Pest. Und genau das ist, wie du weißt, mein Antrieb, noch einmal in die Welt hinauszugehen, um alles über diese Krankheit zu erfahren. Die Geißel hat mein Lebensglück zerstört, und jetzt werde ich versuchen, sie zu zerstören. Ich muss alles über sie wissen und mit den klügsten Köpfen des Abendlandes und des Morgenlandes darüber reden. Nur dann habe ich die Möglichkeit, den Kampf zu gewinnen. Ich habe es Arlette versprochen.«
    Sîdi Moktar klatschte in die Hände, um den Diener zu rufen, der eine neue Portion gesüßte Datteln holen sollte. Dann nahm er einen weiteren Zug aus der Shisha und sagte: »Du hast gute Freunde, die mit dir gehen. Allah muss ein Auge auf dich haben, auch wenn du zu den Ungläubigen zählst. Wie heißt es doch im fünfundzwanzigsten Vers der Sechsten Sure:
    Wen Allah leiten will,
    dem weitet er seine Brust,
    und wen er irreführen will,
    dem macht er die Brust
    knapp und eng …
    Doch du sprachst vorhin von dem schönsten Moment in deinem Leben, und ich schließe daraus, dass es auch einen Schlimmsten gab. Habe ich Recht?«
    »Das hast du.«
    »Magst du darüber reden? Wie wär’s mit einem Pfeifchen? Das macht vieles leichter.«
    »Nein, nein, danke. Für mich ist Opium eher Arznei als Genussmittel. Wenn ich es recht bedenke, war das Böseste, was ich jemals erlebte, die Folter im Kerker von Dosvaldes. Damals war mir der Magister schon zu einem guten Freund geworden, nicht wahr, du Unkraut?«
    »Das ist wohl so. Du und ich, wir haben einander gesucht und gefunden. Wir wussten vom ersten Augenblick an genau, was wir wollten, nämlich fliehen, und auch genau, was wir nicht wollten, nämlich bleiben.
Idem velle atque idem nolle, ea demum firma amicitia est
, wie wir ungebildeten Europäer sagen.« Der kleine Gelehrte grinste, und auch über Sîdi Moktars Gesicht huschte ein Lächeln. Er verstand den kleinen Seitenhieb und nahm ihn keineswegs übel. Zu viele Völker in zu vielen Jahrhunderten hatten einander als barbarisch eingestuft …
    Vitus spann seinen Faden fort: »Wer jemals allein auf dem Stachelstuhl saß, der weiß: Du denkst an nichts anderes mehr als an den überwältigenden Schmerz. Du denkst weder an Freunde noch an Frauen noch an Geld noch an Gut, ja, du denkst nicht einmal an Gott. Du leidest wie ein Tier und wirst von Menschen gequält, die ebenfalls zum Tier geworden sind. Das aber ist das Schlimmste: das rechthaberische, das unbarmherzige, das sinnlose Gedankengebäude, das solche Torturen möglich macht. Nirgendwo in der Bibel steht, dass Foltern gottgewollt ist. Nirgendwo! In keiner Predigt fordert Jesus etwas so Unmenschliches.«
    Der zierliche Handelsherr schwieg daraufhin eine Zeit lang und paffte dicke Wolken vor sich hin. Dann sagte er nachdenklich: »Und Isa auch nicht.«
    »Isa?«
    »So nennen wir Muselmanen Jesus. Soviel mir bekannt ist, gibt es im Koran ebenfalls keine derartige Passage. Aber bald werde ich Gewissheit haben, denn dank deiner Lupe, Cirurgicus, kann ich unser Heiliges Buch nun wieder ohne Schwierigkeiten studieren.«
    »Das freut mich für dich. Übrigens, was willst du eigentlich mit der alten Lupe machen? Sie ist zwar wertlos, aber zum Fortwerfen wohl doch zu schade.«
    »Richtig, richtig. Ich habe mir den Kopf zerbrochen, wie ich das Glas trotz seines Zustands zu Geld machen könnte, aber mir ist nichts eingefallen. Mir wird wohl nichts anderes übrig bleiben, als es dem Hadschi Abdel Ubaidi zurückzugeben, damit er es mit nach Tanger nimmt. Vielleicht besteht dort die Möglichkeit, es zu polieren und wieder klarsichtig zu machen.«
    Bei den letzten Worten des zierlichen Handelsherrn war Vitus von seinem Kissen hochgefahren. »Meintest du eben Hadschi Abdel Ubaidi, den Khabir?«
    »Ja, genau den.« Sîdi Moktar zog erstaunt die Brauen hoch. »Kennst du ihn?«
    »Und ob wir den kennen!«, warf der Magister ein. »Mehr, als uns lieb ist.«
    »Wui, wui!«
    Alb gurgelte etwas Unverständliches.
    Vitus berichtete über die unglücklichen Ereignisse in Tanger und den langen Marsch von dort nach Fez, denn diesen letzten Abschnitt seiner abenteuerlichen Reisen hatte er bisher ausgespart, und der

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