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Die Mission des Wanderchirurgen

Die Mission des Wanderchirurgen

Titel: Die Mission des Wanderchirurgen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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den Mund küsste. Küsse von Männern sollten ganz anders schmecken als solche von Eltern oder Geschwistern. Aber wo lag der Unterschied?
    »Nach allem, was dein Vater und ich wissen, ist er ein junger Mann, der zu den schönsten Hoffnungen Anlass gibt. Im Übrigen dürfte er mittlerweile auch einen Bart tragen, denn das Bildchen ist mindestens zwei Jahre alt. Kamar wird im Winter sechzehn. Es heißt, er wäre sehr gespannt auf dich, dennoch wird er sich noch gehörig in Geduld fassen müssen, bis er dein Antlitz zum ersten Mal sehen darf.«
    »Ich weiß, er muss noch bis zum Tag der Hochzeit warten.« Budûr betrachtete abermals das kleine Gemälde. Es war eine Tuschezeichnung mit blassen Farben und weichen Konturen. Schon allein aus diesem Grund war die Abbildung nicht sehr aussagekräftig.
    »Richtig. Genau gesagt, muss er den Abschluss des Ehevertrages abwarten. Erst danach ist er nach alter Sitte befugt, dir den Hidschab abzunehmen.«
    »Hoffentlich ist er dann nicht enttäuscht.« Budûr wusste, dass sie eine kleine Schönheit war – der blank polierte Messingspiegel hatte es ihr oft genug bestätigt –, sie wusste aber auch, wie unberechenbar die Geschmäcker der Männer waren. Warum sonst sollte ihr Vater so große Stücke auf ihre Mutter halten, wo doch Nâdschija beileibe nicht wie eine Prinzessin aus
Alf laila waleila
aussah.
    »Er wird nicht enttäuscht sein, sondern sich für einen ausgemachten Glückspilz halten. Und das ist er auch, weil er dich bekommt. Doch selbst wenn er es wäre, würde es ihm nichts nützen. Vertrag ist Vertrag. Allah hat uns und alle unsere Handlungen vorbestimmt, so heißt es im Heiligen Buch. Er müsste dich nehmen, egal, ob du abstoßend wie ein Scheusal wärest, aufsässig wie ein Zankteufel oder verfressen wie ein gieriger Ghûl. Ja, er müsste bei dir bleiben bis zum Ende seiner Tage. Dasselbe gilt ebenfalls für dich. Auch du kannst dir nicht aussuchen, ob Kamar das Verhalten eines edlen Jünglings besitzt oder die Rücksichtslosigkeit eines Stiers, der auf die Lämmer geht. Du musst damit fertig werden.« Nâdschija machte eine Pause. »Und du wirst damit fertig werden.«
    Budûr blickte in die Flammen. Es war ihr, als blickte Kamar aus ihnen zu ihr empor. Mal lächelte er, mal geriet sein Gesicht zur Fratze, je nach dem Spiel von Hell und Dunkel. War er gut? War er böse? Verwischte Konturen, Ungewissheit. »Ich habe oft zu Allah gebetet, Mutter, er möge geben, dass Kamar ein guter Mann ist. Da ich ihn doch gar nicht kenne und auch gar nicht liebe …«
    Nâdschija begann wieder, wie es ihre Art war, über den Kopf ihrer Tochter zu streichen. »Das mit der Liebe findet sich, meine kleine Wildrose. Wichtiger ist, dass man einander achtet. Und wenn dann erst die Kinder kommen, am besten ein Sohn, denn alle Männer sind närrisch nach Söhnen, dann werden deine Bande zu Kamar stark und stärker werden. Mir erging es mit deinem Vater nicht anders. Und noch etwas: Wie gut ein Mann ist, hängt nicht zuletzt von seiner Ehefrau ab. Unterschätze niemals deinen Einfluss und nimm ihn vom ersten Tage an wahr. Nur ein Mann, der dümmer ist als tausend Dschinns der Wüste, setzt sich über die Meinung seiner Gemahlin hinweg. Und nur eine Frau, die genauso dumm ist, wird ihren Mann spüren lassen, dass sie Einfluss auf ihn ausübt. Merke dir das.«
    »Ja, Mutter.«
    »Gib mir die Bildkapsel wieder. Du darfst sie offiziell erst am Tage der Hochzeit erhalten.«
    Budûr tat, wie ihr geheißen. Sie war sehr nachdenklich geworden. Eine bestimmte Bemerkung wollte ihr nicht aus dem Kopf. »Sag, Mutter, was meintest du mit ›der Rücksichtslosigkeit eines Stiers, der auf die Lämmer geht‹?«
    Nâdschija hüstelte. »Nun, ich komme wohl nicht darum herum, dir zu erklären, was zwischen Mann und Frau geschieht, und vielleicht ist es auch ganz gut so vor der Hochzeit. Ich hatte von alledem keine Ahnung, als ich das erste Mal bei deinem Vater lag, doch wusste wenigstens er Bescheid, denn wie du weißt, bin ich seine vierte Gemahlin, und vor mir hatte er schon oft der fleischlichen Lust gefrönt. Bei dir und Kamar jedoch ist es anders. Dein Bräutigam dürfte auf diesem Gebiet genauso unerfahren sein wie du.«
    »Auf welchem Gebiet?«
    »Auf dem des geschlechtlichen Verkehrs. Warte einen Augenblick.« Nâdschija bedeutete den Dienerinnen, die emsig mit dem Putzen von Silber beschäftigt waren, sie sollten sich einige Schritte entfernen und dort weitermachen. Das, was sie erklären wollte,

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