Die Mission des Wanderchirurgen
ansehen, Cirurgicus?«
»Natürlich. Ich danke dir für dein Vertrauen, Sîdi Harun.«
Geraume Zeit später folgte Vitus dem Vater in den Frauentrakt von
el-Dschudi
, wo er ein sehr junges, tief verschleiertes Mädchen antraf. Neben dem Mädchen saß eine etwas rundlichere Frau, offenbar die Mutter. »Du bist Budûr, nicht war?«, sagte er. »Wie alt bis du denn?«
Die Kleine antwortete nicht. Sie schlug lediglich die Augen nieder. Vitus sah, dass sie sich mit Tränen füllten.
»Willst du nicht mit mir reden?«
Kopfschütteln.
Vitus fasste einen Entschluss. Er wandte sich an die Eltern und sagte: »Würde es euch etwas ausmachen, mich mit Budûr allein zu lassen?«
Sîdi Harun und seine Gemahlin zögerten. Für einen gläubigen Muselmanen bedeutete es etwas Außergewöhnliches, ja, Unerhörtes, die Tochterbraut mit einem fremden Mann allein zu lassen – selbst wenn dieser ein Hakim war. Schließlich aber, auf einen Wink des Vaters, verließen beide den Raum.
Die Unterkunft war ein Gelass von vielleicht sechs mal sechs Schritt Größe, und Nâdschija, die Mutter, schien keine Mühen gescheut zu haben, daraus ein behagliches Heim für sich und ihr Töchterchen zu schaffen. Teppiche, Kissen und kostbare Decken bedeckten den Boden, sogar ein Beistelltischchen für Schönheitsutensilien stand bereit. Dazu gab es mehrere Seidenvorhänge, die sowohl als Wandverschönerung wie auch als Raumteiler dienten. Und inmitten dieser ganzen Pracht saß wie ein Häufchen Unglück Budûr.
Vitus setzte sich ebenfalls. Dann sagte er eine Weile nichts, um der Kleinen Gelegenheit zu geben, sich an seinen Anblick zu gewöhnen.
»Ich heiße Vitus von Campodios und bin ein Cirurgicus«, sagte er. Und dann fügte er hinzu: »Ich bin schon weit über zwanzig.«
Keine Antwort. Stattdessen blickte Budûr demonstrativ zur Seite.
»Ich wette, du bist noch keine zwölf.« Der Satz, mit voller Absicht gesagt, musste auf ein junges Mädchen fast beleidigend wirken und verfehlte deshalb seine Wirkung nicht.
»Ich bin schon dreizehneinhalb!«, begehrte Budûr auf. Doch sie schwieg sogleich wieder, denn eigentlich hatte sie nichts sagen wollen.
»Natürlich bist du schon dreizehneinhalb, ich wollte nur einen Scherz machen. Vielleicht siehst du sogar noch älter aus, aber das kann ich natürlich nicht beurteilen, solange du dein Gesicht hinter dem Hidschab versteckst.«
Erneut wandte Budûr ihr Gesicht ab, und Vitus wurde klar, dass er zu weit gegangen war. Darum schwieg er wieder eine Weile, bevor er sagte: »Das Einzige, was ich sehen kann, sind deine Augen. Es sind sehr traurige Augen. Sie sind tränennass. Ist dein Bräutigam so hässlich, oder warum hast du geweint?«
Budûr zuckte mit den Schultern.
»Eigentlich solltest du dich freuen. Hochzeitsfeierlichkeiten sind das Schönste überhaupt für ein junges Mädchen.«
Budûr antwortete noch immer nicht, und Vitus wollte es fast schon aufgeben, ihr ein paar Worte zu entlocken, da presste sie plötzlich hervor: »Ich … ich muss … sterben …«
Vitus verbarg seine Überraschung. »Wer hat denn gesagt, dass du sterben musst?«, fragte er sanft.
»Niemand … ich … ich selbst.«
»Du selbst glaubst das also.« Vitus war froh, dass der Bann gebrochen schien. Einem Patienten, der nicht redete, war schlecht zu helfen. »Ich als Arzt versichere dir: So schnell stirbt es sich nicht. Irgendwann muss jeder von uns diese Welt verlassen, aber du, du bist noch lange nicht dran.«
»Aber … aber … das viele Blut.«
»Das viele Blut?« In Vitus stieg eine Ahnung auf. »Könnte es sein, dass du seit zwei Tagen an immer derselben Stelle blutest?«
Budûr senkte verschämt den Kopf. »J … Ja.«
Vitus lächelte. »Ich denke, ich weiß, worunter du leidest. Es ist etwas, das bei jeder Frau alle vier Wochen vorkommt. Man nennt es Monatsblutung. Eine ganz normale Sache.«
»Ich … muss nicht sterben?«
»Aber nein. Die Monatsblutung ist eine Selbstreinigung des Körpers und gleichzeitig eine Vorbereitung, den männlichen Samen empfangen zu können. Du kannst dir gratulieren. Rechtzeitig vor deiner Heirat bist du zu einer vollwertigen Frau herangereift.«
»Wirklich?« Budûr brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass ihre Beschwerden völlig normal sein sollten, zumal ihre Mutter niemals von derlei Vorgängen im weiblichen Körper gesprochen hatte. Langsam fiel die Angst von ihr ab.
»Ja, wirklich«, sagte Vitus fest. Er erhob sich und ging nach draußen, wo Budûrs
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