Die Mission des Zeichners
empfand er in Wahrheit keinerlei Hass, sondern eine sonderbare Art von Bewunderung. Im Namen der Liebe alles zu riskieren - und zu verlieren -, das war irgendwie erhaben. Dass sie das Grüne Buch vernichtet hatte, störte Spandrel nicht. Gewissermaßen billigte er diesen Schritt sogar. Und gegen seinen Willen beschlichen ihn Sorgen darum, wie es nun mit ihr weitergehen würde. Zuyler war bei seinem Hang zur Gewalt alles zuzutrauen. Sie sollte Bern schleunigst verlassen, nach England zurückkehren und all den Torheiten und Lastern abschwören, zu denen Zuyler sie verführt hatte.
Ob Estelle so handeln würde, wusste er freilich nicht. Als er in diesem schäbigen Zimmer in der Pension Siegwart ihrer Schilderung gelauscht hatte, war es ihm so vorgekommen, als könne er die Schwärze ihrer Verzweiflung am eigenen Leib spüren. Sie hatte ihr altes Leben aufgegeben, und jetzt hatte ihr neues Leben sie aufgegeben. Was würde sie nun tun? »Vielleicht geht sie ins Wasser«, hatte McIlwraith gestern spät in der Nacht und schon sturzbetrunken geknurrt, »bevor Zuyler sie reinwirft.« Auch wenn sein Vorschlag halb im Scherz gemeint gewesen war, so hatte er Spandrel dennoch nicht mehr losgelassen und sich zu der Überzeugung verfestigt, dass etwas derart Schreckliches möglich, ja, vielleicht sogar bereits geschehen war.
Um seine trüben Gedanken abzuschütteln, hatte er den heute sehr griesgrämigen McIlwraith allein beim Frühstück in den Drei Tassen sitzen lassen und war ziellos durch die Straßen Berns gestreift, das sich noch räkelte, Luft holte und allmählich zu seinem samstäglichen Leben fand.
Aber sein Vorhaben war Spandrel nicht gelungen. Er war und blieb deprimiert. Und während er auf den Fluss hinausschaute, wo gerade ein Boot ablegte, verstand er, dass es nur eine Möglichkeit gab, sie loszuwerden. Er musste in die Pension Siegwart zurückgehen und mit Estelle de Vries eine Art von Frieden schließen.
Eine kugelrunde Frau mit lebhaft funkelnden Augen, die Spandrel für Frau Siegwart hielt, öffnete ihm die Tür. Wie sich schnell herausstellte, war ihr Englisch kaum besser als seine Deutschkenntnisse. Da half es ihm auch nicht unbedingt, als er sich nach Mevrouw de Vries erkundigte. Erst als er das mit einem verlegenen Lachen als Irrtum abgetan und stattdessen Mrs. Kemp verlangte, begriff sie und bat ihn herein.
Die Treppenstufen erbebten unter Frau Siegwarts Gewicht, als sie Spandrel in den ersten Stock führte. Vor der Tür zum besten Zimmer blieb sie schwer keuchend stehen. Sie klopfte einmal an. Da niemand antwortete, pochte sie erneut, härter diesmal. »Ich versteh das nicht«, murmelte sie stirnrunzelnd. »Wo sin' sie?« Sie presste das Ohr an die Tür, klopfte wieder und drückte schließlich die Klinke hinunter.
Die Tür war nicht verschlossen. Frau Siegwart stieß sie ganz auf und sah ins Zimmer. Es war leer. Erschrocken schnappte Frau Siegwart nach Luft. Spandrel, der über ihre Schulter spähte, erkannte sofort, warum. Die Schubladen der Kommode unter dem Fenster standen weit offen und waren ausgeräumt.
Während Frau Siegwart, irgendetwas vor sich hin brummelnd, den Rest des Zimmers inspizierte, rang Spandrel noch immer fassungslos um Verständnis. Wo war sie? Wo waren die beiden? Wenn Estelle geflohen war, was ja nicht auszuschließen war, hätte sie unmöglich Zuylers Gepäck mitnehmen können. Es sei denn, natürlich, sie hatten sich gemeinsam abgesetzt.
»Jupe«, sagte er laut. »Wo ist Jupe?«
»Wie bitte?«
»Jupe. Er ist auch hier abgestiegen. Mister Jupe.«
»Der Engländer?«
»Ja. Richtig. Er ist auch Engländer. Mr. Jupe.«
Offenbar verstand sie, dass ihr anderer englischer Gast vielleicht ein Licht auf das Verschwinden von Mr. und Mrs. Kemp werfen konnte. Jedenfalls stapfte Frau Siegwart zum Treppenhaus zurück. Spandrel folgte ihr.
Zwei Stockwerke weiter oben kamen sie auf einem Absatz mit niedriger Decke an. Frau Siegwart, die inzwischen wie ein Walross schnaufte, klopfte an eine der Türen. Keine Antwort. Sie versuchte es erneut. Mit demselben Ergebnis. Schließlich rüttelte sie an der Klinke und drückte sie hinunter.
Auch Jupes Zimmer war nicht abgesperrt, was Spandrel allerdings einigermaßen überraschte. Sein Staunen wich jedoch jähem Entsetzen über den Anblick, der sich ihm und der Wirtin bot.
Jupe und Zuyler lagen nebeneinander am Fuß des Bettes. Offenbar hatte es einen Kampf gegeben. Der Toilettentisch war umgerissen worden, und der Läufer war verrutscht
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