Die Mission
hygienischen Zuständen wimmelte es nur so von Läusen, Ratten, Mäusen und Flöhen. Alle hatten Läuse, alle waren schmutzig, alle stanken, und alle lebten in ständiger Angst, dass eine der unzähligen Haubitzen, die die SS unablässig auf die Stadt abfeuerte, ihn treffen könnte.
Als aber Ella Normas entsetztes Gesicht sah, empfand sie Mitleid. Norma hörte einfach nicht auf zu jammern – trotzdem überwand Ella sich und sagte so aufmunternd, wie sie nur konnte: »Wenn es dir so viel ausmacht, musst du heute Nacht deine Kleider nach draußen hängen. Der Frost tötet das Ungeziefer ab.«
»Die Kleider sind nicht das Problem«, entgegnete Norma, sah sich misstrauisch im Kellerraum um, wo sie mit unzähligen anderen Schutz gesucht hatten, und senkte die Stimme. »Es sind die Haare«, flüsterte sie. »Ich bin völlig verseucht.«
Wieder mischte sich Vanka ein. »Nun, Sie könnten ja Ihren Kopf abschrauben und über Nacht nach draußen …«
Ein strenger Blick von Ella brachte ihn zum Schweigen. Die Spannung zwischen den beiden wurde allmählich unerträglich. Ihre anfängliche gegenseitige Abneigung hatte sich in Abscheu verwandelt.
Ella versuchte es erneut. »Die meisten Frauen hier haben sich das Haar abgeschnitten, Norma. Kurzes Haar ist leichter zu entlausen.«
Norma sah Ella an, als wäre sie nicht ganz bei Trost. »Mein Haar abschneiden? Nachdem es so lange gedauert hat, es wachsen zu lassen? Du spinnst wohl. Was ich brauche ist heißes Wasser, ein frisches Handtuch, ein Shampoo gegen die Nissen und saubere Klamotten.« Sie machte eine Pause. »Und außerdem will ich raus aus dem Scheißloch hier.«
Ella musste zugeben, dass Norma recht hatte. Sie waren wirklich in einem Scheißloch gelandet. Das ruhige kleine Hotel, in das sie gezogen waren, als sie im Ghetto ankamen, war längst nicht mehr da, das Artilleriefeuer hatte es in Schutt und Asche gelegt. Jetzt teilten sie sich den 35 Quadratmeter großen Kellerraum des Hotels mit anderen krätzigen Flüchtlingen. Es war eine fürchterliche Atmosphäre, feucht und finster, die Ella aufs Gemüt schlug.
Genauso wie ihren zwanzig Leidensgenossen. Nicht dass sie sich beklagt hätten – alle waren so mutlos und niedergeschlagen, dass sie es längst aufgegeben hatten, sich zu beklagen. Sie saßen nur stumm da und starrten in die Dunkelheit. Nach drei Wochen in diesem Hexenkessel hatte Ella das Gefühl, dass es ihren Mitbewohnern mittlerweile völlig einerlei war, was mit ihnen geschah. Die Angst und der Schrecken, denen sie hilflos ausgesetzt waren, hatten sie sowohl gegenüber ihrem eigenen Leid als auch dem der anderen unempfindlich gemacht. Die Polen standen kurz vor dem Zusammenbruch.
Ella seufzte. Sie wünschte, Norma wäre genauso gelähmt und hilflos und würde endlich mit der ewigen Quengelei aufhören. Sie wusste nicht mehr, was schlimmer war, Normas ständige Klagen oder die Haubitzen der SS , die sie zermalmen wollten. Seit drei Wochen hatte sie vor keinem der beiden Ruhe gehabt. Seit ihrer Ankunft im Ghetto hatte sie kaum Tageslicht gesehen. Bei Tag machten die Scharfschützen einen Spaziergang zu einem gefährlichen Unternehmen, ein Risiko, das sie nur einging, wenn der Hunger ihr keine Wahl ließ und sie sich auf Nahrungssuche begeben musste. Ella glaubte nicht, dass sie noch lange durchhalten könnte. Und die Polen wohl auch nicht.
Obwohl die Polen verzweifelt, todesmutig und unermüdlich kämpften, war die SS immer weiter in das Ghetto vorgedrungen. Es schien, als müsste die Widerstandsarmee eine Stellung nach der anderen aufgeben, die überrannt wurde. Ella hatte gehört, dass weitere SS -Truppen eingetroffen waren und nun auch eine andere Strategie verfolgten. Sie waren nicht mehr so arrogant und sorglos wie in den ersten Tagen der Kämpfe, sondern gingen kaltschnäuzig und enorm professionell vor.
Archie Clement hatte dazugelernt. Er hatte eingesehen, dass man die Freie Armee Warschaus am besten schlug, indem man sie körperlich und seelisch zermürbte, Tag und Nacht unter Artilleriebeschuss nahm. Er hatte Warschau in eine einzige riesige Todeszone verwandelt; das Warschauer Ghetto war zur Apotheose asymmetrischer Kriegsführung geworden.
Der General da oben in der sicheren und gemütlichen Realen Welt ist bestimmt sehr stolz auf sein Werk, dachte Ella.
»Gibt es hier einen gewissen Vanka Maykow?«
Ella sah zur Tür. Im spärlichen Schein einer Öllampe erkannte sie die Silhouette eines hageren Jungen. Er trug eine zerschlissene und
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