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Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Titel: Die Mittagsfrau: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Franck
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Martha und Leontine und jemand, den sie nicht kannte, der ihr nicht einfiel, irgendjemand, aus Anlass ihres Todes über Verantwortung und gar Schuld nachdenken musste. Das unbemerkte Verschwinden, das endgültige Davonkommen, das war schon etwas schwieriger. Letztlich durften Leben und Gedenken der anderen nicht mehr interessieren, auch davon musste Abschied genommen werden, jeder blieb sich selbst der alleinige Verantwortliche. Wie oft hielt Helene die Gifte in ihren Händen, verabreichte sie das eine in kleinen schmerzstillenden und das andere in schlafförderlichen Dosen. Die Schachtel Veronal, die sie für alle Fälle aus der Apotheke mitgenommen hatte, war aus ihrem kleinen, ochsenblutfarbenen Koffer verschwunden. Helene hatte weniger Otta im Verdacht, sie vermutete, dass Fanny während ihrer Abwesenheit in ihren Sachen schnüffelte und beim Anblick der Schachtel nicht hatte widerstehen können. Aber im Krankenhaus gab es genug. Nicht nur Morphine und Barbiturate, schon das Spritzen von ein wenig Luft konnte, so es gelang, tödlich wirken. Das Leben erschien Helene als sinnloses Weiterleben, ein unabsichtliches Überleben, ein Überleben von Carl. Wollte sie die Scham begrenzen, weil es ihr anmaßend und kokett erschien, im Besitz des Lebens sich für selbiges zu schämen, so sagte sie sich, dass ihre Erinnerung an Carl dessen vollkommenes Verschwinden ein wenig aufhalten, hinauszögern würde. Die Vorstellung gefiel ihr – solange sie lebte und in Liebe an Carl dachte, wie auch seine Familie, so lange gab es noch eine Spur seiner Existenz. In ihr und mit ihr und durch sie. Helene beschloss, sie lebte, um ihn zu ehren. Sie wollte eines Tages wieder fröhlich sein und lachen, einzig aus Liebe zu ihm. Wenn er auch nichts mehr davon hatte. Helene glaubte an kein Wiedersehen in einer anderen Welt; es mochte sie geben, diese andere Welt, wohl aber ohne die hiesige Bindung einer einzelnen Seele an einen einzelnen Körper mit ihren ständigen Bedürfnissen nach einer Vereinigung mit anderen, einer Auflösung und Aufweichung der Verdammnis in das einzelne, alleinige. Deshalb ihr Denken, deshalb ihr Sprechen, deshalb ihre Umarmungen. Helene befand sich im Zwiespalt und Widerspruch. Sie wollte kein Denken, kein Sprechen, keine Umarmung mehr mit einem anderen Menschen, mit niemandem mehr. Aber sie wollte Carl weiterleben, nicht ihn über leben, ihn weiterleben; denn was anderes blieb von ihm als ihre Erinnerung. Wie sollte ein Weiterleben möglich sein, ohne Denken und Sprechen und Umarmen? Was zählte, war, den Mechanismus des Lebens nicht zu unterbrechen, das hieß, das Nötigste schlafen, das Nötigste essen, und Helene war erleichtert, dass ihr die Anstellung im Krankenhaus jeden Tag in überschaubare und regelmäßige Einheiten einteilte, ähnlich wie das Pendel der Uhr die Zeit überschaubar erscheinen ließ, ließ die Arbeit im Krankenhaus Helene ihr Leben überschaubar erscheinen. Sie musste nicht darüber nachdenken, wann ihr Leben ein Ende finden würde, sie konnte sich getrost an die Zeiten von Dienstbeginn und Dienstschluss halten. Dazwischen maß Helene Temperaturen, sie zählte Pulsschläge und reinigte Operationsbestecke. Helene hielt die Hände von Sterbenden und Gebärenden und Einsamen, sie wechselte Verbände, Binden und Windeln, ihre Arbeit war nützlich.
    Sie lebte vor sich hin, von einem Dienstplan zum nächsten.
    Auf der Suche nach einer Wohnung kam Helene an der Apostel-Paulus-Kirche vorbei, die Tür stand offen und ihr fiel auf, dass sie schon seit Jahren nicht mehr in der Kirche gewesen war. Sie ging hinein. Der Duft nach Weihrauch hing im Gestühl. Sie war allein in der Kirche. Helene ging nach vorne und setzte sich auf die zweite Bank, sie faltete ihre Hände, sie suchte nach einem Gebetsanfang, aber so sehr sie sich anstrengte, keiner wollte ihr einfallen.
    Lieber Gott, flüsterte sie, wenn du da bist, Helene stockte, warum wurde Gott eigentlich mit du angesprochen? Ein Zeichen könntest du mir schicken, flüsterte Helene, ein kleines Zeichen. Ihr liefen Tränen aus den Augen. Nimm mir das Selbstmitleid und den Schmerz, sagte sie, bitte, ergänzte sie. Die Tränen versiegten, der Schmerz in der Brust blieb, etwas, das die Bronchien verengte und sie nur schwer Luft holen ließ. Wie lange noch? Helene lauschte, aber von draußen war nur das Knattern eines Autobusses zu hören. Vielleicht wenigstens das: Wie lange noch muss ich hierbleiben? Niemand antwortete, Helene lauschte in die Weite des

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