Die Mitte des Weges: Roman (German Edition)
bäumt sich sein Magen auf. In seinem Kopf summt und rumort es, er ist kurz davor, die Nerven zu verlieren und die Polizei anzurufen.
»Dann bist du een toter Mann«, hatte der Rocker mit der hellen Stimme gesagt.
Mike glaubt es ihm unbesehen. Er sucht den Tisch ab und erblickt daneben die Aktenmappe aus teurem Leder. Er nimmt sie vorsichtig, öffnet sie und findet den Vertragsentwurf. Er nimmt das Papier an sich, faltet es und steckt es ein. Danach untersucht er die Schubladen, sucht irgendetwas, das auf ihn hinweisen könnte und findet sonst nichts.
Immer wieder wird sein Blick wie magisch von den Leichnamen angezogen. Der Mann liegt auf dem Rücken, die Brille schief im Gesicht und überall ist getrocknetes Blut. Seine Nase sieht aus wie rohes Fleisch. Das Gesicht der Frau ist Gott sei Dank von Mike abgewendet und er hat keine Lust, ihr in die starren Augen zu blicken.
Er ist klitschnass vor Schweiß.
Er zwingt sich zur Ruhe und überlegt, ob er etwas vergessen hat. Dann schaltet er das Licht aus und verlässt das Haus auf dem gleichen Weg, über den er eingedrungen ist.
2. Teil
1
Lotte dreht wie versessen am Zauberwürfel, nach dem seit ein paar Monaten die Leute auf der ganzen Welt wie verrückt sind. Noch nie ist ihr auch nur ein kleiner Erfolg gelungen, deshalb legt sie ihn auch dieses Mal wieder verdrossen zur Seite.
Er lenkt sie nicht ab. Vier Jahre ist es her, als sie den größten Teil ihrer Familie verlor und sie hat es noch immer nicht verarbeitet.
Zuerst Muttel, danach Otto und Gina.
Sie dachte damals, in den eigenen Tränen zu ertrinken und Frank, der gelassener damit umging, hatte eine schwere Zeit mit ihr. Nun muss sie befürchten, auch ihren Mann zu verlieren.
Versinkt die Erde in Chaos und damit auch ihre kleine Welt? Man schreibt 1980 und der Krieg ist seit 35 Jahren vorbei. Aber hat sich die Welt gebessert, haben die Menschen gelernt?
Wohin man schaut, nichts als Barbarei, Gräuel und Krieg. Alles, was sie einst erhoffte, nämlich eine Berichtigung der alten Zeit und Frieden, damals, als alles auf Anfang stand, hat sich im Sande verlaufen.
Die Tochter ihres Lieblingsmoderators Dieter Kronzucker wurde entführt. In Danzig fingen Streiks an, mit denen die Menschen mehr Freiheit erkämpfen wollen. Zwischen Irak und Iran herrscht seit ein paar Wochen Krieg und die Amerikaner wollen eingreifen. Und alle reden von der ins Haus stehenden Bundestagswahl, bei der es nur noch mit Lug und Trug zugeht. Was soll aus einem Land werden, in dem möglicherweise Franz Josef Strauß Kanzler wird?
Gibt es denn keine guten Nachrichten mehr?
Vermutlich nicht. Wie soll die Welt gut werden, wenn Einbrecher für ein paar Schmuckstücke ein harmloses Ehepaar erschlagen, wie es Otto und Gina ergangen ist. Die Ermittlungen der Polizei liefen ins Leere und bis heute gibt es keine brauchbare Spur. Nur gut, dass Thomas zum Zeitpunkt des Einbruchs wieder zurück in Bergborn war, sonst ...
Sie denkt diesen tausendfach gedachten Gedanken nicht zu Ende. Ein Gedanke, der sie dankbar macht und ihr Mut schenkt.
Frank ist krank.
Er kriegt kaum noch Luft, hechelt wie ein Hund nach einer Anstrengung und hustet sich fast die Seele aus dem Leibe. Zudem hatte er einen Arbeitsunfall, bei dem er sich das Handgelenk brach, das jetzt im Gips ist und sehr langsam verheilt. Derzeit liegt er im Liegestuhl im Garten unter einer Decke und genießt die reine Herbstluft. Er ist wie verrückt nach dem Grün und kann es im Haus kaum aushalten.
»Draußen bekomme ich besser Luft«, sagt er. »Und über mir ist der Himmel, nicht Steine und tropfender Felsen.«
Seit einigen Wochen schläft er auf der Wohnzimmercouch und sie im Ehebett, denn sein Husten raubt ihr den Schlaf. Er hingegen sieht Fernsehen, bis ihm die Augen zufallen, die Kissen erhöht, fast aufrecht sitzend. Er kann sich nicht hinlegen, da seine Lunge sofort revoltiert. Sie beide wissen, dass das nur ein vorübergehender Zustand ist. Es wird vergehen. Und es wird erneut vergehen. So lange, bis der Körper streikt und das Leiden bleibt. Es ist das Los der meisten Bergleute.
Sie ist einsam im Bett ohne ihn.
Auch einsam, weil ihr Körper noch nach Sex ruft, aber wie soll das ein Mann machen, der fast erstickt, wenn er sich die Schuhe zubindet.
Alles zerbricht.
Nichts ist mehr, wie es war.
Thomas ist aus dem Haus. Er und Lydia haben sich eine Wohnung genommen und wünschen sich ein Kind. Sogar Oskar lässt sich nur noch selten blicken. Auch er ist alt
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