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Die Mitte des Weges: Roman (German Edition)

Die Mitte des Weges: Roman (German Edition)

Titel: Die Mitte des Weges: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Ferkau
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geworden und immer fetter und träger. Lotte erinnert sich, dass sie es früher nicht gerne sah, wenn Oskar sie besuchte, da Frank dann stets zu viel soff. Nun wünscht sie sich, die menschliche Kugel würde den Weg herfinden und Frank aufmuntern. Und vielleicht einen seiner geschmacklosen Witze erzählen.
    Wir sind alt geworden, denkt Lotte. Die Vergangenheit hat uns zermürbt. Das Erlebte hat uns den Schneid abgekauft und nun büßen wir für das, was uns unsere Väter antaten und wir ausbaden müssen.
    Lotte ahnt, dass es eine Zeit geben wird, in der man um die fünfzig noch nicht alt ist, vielleicht sogar in den besten Jahren. Aber nur, wenn sie ohne Krieg ist. Vielleicht werden Tom und Ottilie diese Zeit erleben. So richtig dran glauben kann sie nicht. Man spricht andauernd von einem drohenden Atomkrieg. Die Spannungen zwischen Russland und den USA bestehen nach wie vor. Man bedroht sich und irgendwann wird einer auf den Knopf drücken und sie alle werden verglühen oder elendig verrecken.
    Lotte steht auf und wischt fahrig mit dem Staublappen über die Fensterbretter. Alle reinigen, nirgendwo darf ein Fleck bleiben. Es muss blitzen und blinken.
    Ach Otto, ach Muttel, ach Gina ... warum seid ihr nicht mehr da?
    Ohne dass sie es merkt, kullern ihr Tränen über die Wangen. Sie hat lange nicht mehr geweint, doch jetzt empfindet sie den Verlust körperlich, der sie fast in den Boden rammt, ihr die Luft zum Atmen nehmen, sie foltern und sie für etwas bestrafen will, von dem sie nicht weiß, was es ist.
    Sie schnieft und wischt sich hastig den Kummer aus den Augen. Keine Schwäche zeigen, Lotte! Eine Lotte Wille haut nichts um, denn sie hat ein Rückgrat, auch wenn sie das kaum noch bewegen kann, denn der Seelenschmerz lässt sich nicht abputzen, so gerne sie will, und belastet ihre Knochen, ihre Muskeln und ihr Blut.
    Liebe Güte, was bedeutet denn der Tod? Schon als Kind ist sie ihm fortwährend begegnet. Junge Mädchen, die sich erhängt hatten, vor Angst, von Russen vergewaltigt zu werden. Männer und Frauen, halbverwest, die auf der Flucht die Kraft verließ. Soldaten ohne Gliedmaßen oder mit geplatzten Schädeln, von Kugeln zerfetzt. Menschen, die in Scheunen gesperrt wurden, wonach die Russen ein munteres Feuerchen machten, und ihre Opfer hinterher aussahen wie verrenkte Rußskulpturen. Und unzählige tote Tiere mit aufgeblähten Leibern, von Fliegen umschwärmt und von Maden übersät. So hart es klingt, gewöhnt man sich daran. Vielleicht, weil die Bilder sie in Träumen heimsuchen und inzwischen zu ihr gehören, wie die Kittelschürze, die sie neuerdings wieder anzieht.
    Sogar der eigene Tod schreckt nicht mehr. Wer dran ist, stirbt, und wenn das Schicksal es will, sogar bei einem Einbruch.
    Sie stößt ihren Seufzer aus, doch dieses Mal weiß sie nicht, wer an sie denkt. Vielleicht Piefke, ihr jüngster Bruder, den sie zuletzt in Berlin bei der Beerdigung gesehen hat. Wer bleibt sonst noch?
    Sie reibt sich über die Augen und ignoriert den Ischiasschmerz, wie sie es seit Jahren macht. In letzter Zeit trübt sich ihr Blick öfters, als gut sein kann. Dann verschwimmt die Welt um sie herum und sie kann nicht mehr richtig sehen. Minuten später ist es vorbei.
    Es ist wie mit Franks Husten. Alles kommt und gleitet wieder weg, dennoch hat es sein Antlitz gezeigt und irgendwann wird es bleiben, wird es sich heimisch machen.
    Sie schreckt auf, als das Telefon klingelt.
    Sie nimmt ab und erkennt Ottilies Stimme, obwohl ihre Tochter schluchzt.
    » Mama ... ich kann nicht mehr. Es wird mir zu viel. Ich bringe Jasmina um!«

2
     
    Ottilie ist glücklich, dass der Arzt nur Gutes zu berichten hatte. Jasmina geht es gut. Nun ist sie fast neun und lebt noch immer. Alles ist wunderbar. Jedes Mal, wenn sie im Krankenhaus sind, rinnt Ottilie Schweiß über den Rücken und ihre Nerven sind zum äußersten gespannt, denn sie weiß nie, was festgestellt wird. Heute gab es nur gute Nachrichten.
    Jasmina sitzt auf ihrem Stuhl, an der Brust festgezurrt wie immer, wackelt mit den Armen, lacht und strahlt ihre Mutter an.
    Ottilie trocknet gespülte Teller ab, als Jasmina zu schreien beginnt. Vor Schreck lässt sie den Teller fallen und tritt in die Scherben. Sie wirbelt herum. Jasmina zuckt mit den Ärmchen, ihr Körper bebt, sie verkrampft sich und ihre Augen rollen wild hin und her. Speichel läuft aus ihrem Mund und die Schreie hören nicht auf.
    Hell, schneidend, ohne Worte, lediglich Töne und Selbstlaute.
    » Was ist

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