Die Mitte des Weges: Roman (German Edition)
wie ein eingesperrtes Tier. Jasmina hat bisher keine Ruhepause eingelegt und kreischt wie am Spieß. Ottilie hat hämmernde Kopfschmerzen und das Gefühl, zu platzen. Schweiß läuft über ihre Stirn.
Nach einer Stunde fragt sie sich, ob sie sich und Jasmina nicht alles erleichtern würde, würde sie das Kind erlösen. Töten.
Ein Kissen auf das schlafende oder schreiende Kind drücken - und aus! Niemand würde das überprüfen, denn jedermann erwartet Jasminas Ableben täglich. Das Kind wäre endlich frei, seine Seele könnte durch den Äther wandern und sie, Ottilie, käme sich vermutlich vor wie nach einer Haftentlassung. Es gibt so viele Männer, die hübsche junge Frauen wollen, aber kein behindertes Kind. Und es gibt ein Leben da draußen, ein Leben, das an Ottilie vorbeirauscht, als wäre sie eingemauert und verdorrt.
Mit welcher Berechtigung stiehlt ihr das Kind ein Leben in Glück und Freude? So bleibt nur die Hingabe an die Behinderung. So lange, bis Ottilie sich auch behindert fühlt, auf eine subtile Weise das draußen nicht mehr wahrnimmt, soziale Kontakte ablehnt und einsam und alleine mit ihrer Tochter dahinvegetiert.
Irgendwann ist sie die typische alte Krähe mit der fünfzigjährigen behinderten Tochter, wie eine Karikatur aus einem Dickens-Roman. Zwei Wesen wie vom anderen Stern. Wunderlich und bewundert. Aliens ohne Heimatplaneten. Eingewicke lt in Cremegeruch und heimlichen Suff. Sie werden durch die Stadt wandeln wie Zombies und man wird hinter vorgehaltener Hand über sie reden. Sonderliche Gestalten wird man sie nennen, während Mitleid und Ekel sich vermischen. Eine Greisin mit dünnen weißen Haaren, die einst lockig und blond gewesen sein mochten, und ein altes hageres Weib im Rollstuhl, das mit wackelnden Armen und krummen Beinen vor sich hinbrabbelt und sabbert, während die knochigen Finger obszön wirkende Bewegungen fabrizieren. Denn dann wird Jasminas Liebreiz, wird ihr Charisma hinter Falten vergangen sein. Es wird nichts mehr sein, das Aufmerksamkeit erringt, abgesehen davon, dass man sie einen Krüppel schimpft.
Von unten klopft es. Nachbarn beschweren sich und benutzen den Besenstiel. Sie blicken sowieso schräg und nun auch noch das Kreischen von oben. Bumm! Bumm!
Als übertrage sich die Wut der Untermieter auf Jasmina, hallt ihre Stimme um eine Nuance höher durch die Wohnung und gleicht jetzt dem Schrillen eines Weckers oder dem ohrenbetäubenden Singen einer Kreissäge.
Es klingelt. Ottilie tappst zur Tür.
» Können Sie Ihr Kind nicht ruhigstellen?«, faucht Herr Landshut von einer Etage tiefer.
» Wenn ich das könnte, wäre das so.«
» Meine Frau bekommt Kopfschmerzen.«
» Ich auch.«
» Dann ändern Sie was daran.«
» Und was?«
» Meine Frau hat Schmerzen.«
Soll sie doch, die alte Zicke, will Ottilie sagen, stattdessen wirft sie Tür einfach zu. Landshut klingelt noch einmal, dann gibt er es auf.
Ottilie folgt dem Lärm, lehnt an der Kinderzimmerwand und blickt hinunter auf das kreischende Bündel Mensch und Tränen laufen über ihr Gesicht. »Sei doch still, sei doch endlich still ...«, flüstert sie.
Lacht Jasmina? Blickt sie ihre Mutter an und lacht sie aus?
»Bitte, bitte ... ich ertrage das nicht mehr.«
Ottilie ist nicht mehr in der Lage, die Stimme zu heben. Das Geschrei, gleichmäßig wie ein Motor, mit einer eindeutig boshaften Komponente, hat sie ausgehöhlt, raubt all ihre Kraft.
» Bitte ...«
Ihr Blick fällt auf das Kissen. Ganz schnell kann sie für Ruhe sorgen.
»Nein, nein ...« Sie rennt zum Telefon und ruft ihre Mutter auf, schluchzt in den Hörer, legt wieder auf und vergräbt den Kopf in den Armen, drückt sich die Ohren zu, raucht eine Zigarette, rennt hin und her, und die Laute aus dem Kinderzimmer bleiben gleichmäßig hell und singend. Kein einziges Wort, sondern gutturale Laute, die sie fast in den Wahnsinn treiben.
Irgendwann, Ottilie hat das Zeitgefühl verloren, sie kauert auf dem Stuhl, die Knie an die Brust gezogen, steht Mutter vor der Tür. Sie stutzt einen Moment, hört, was los ist und rennt an Ottilie vorbei in Jasminas Zimmer. Ottilie folgt ihrer Mutter, die an das Bett tritt und Jasmina hört auf zu schreien, schluchzt ein paarmal, dann ist sie still und lächelt ihre Großmutter freundlich an.
»Siehst du?« Mama dreht sich um und Triumph leuchtet in ihren Augen. »So macht man das.«
Und wieder warst du meine Lehrerin, denkt Ottilie bestürzt. Wieder wusstest du es besser! Und wieder zeigst du es mir
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