Die Mitte des Weges: Roman (German Edition)
denn? Was ist?«, ruft Ottilie und ist bei ihr. Sie streicht Jasmina das Haar aus der Stirn, versucht sie zu beruhigen, aber das Kind hört nicht auf zu schreien. »Tut dir was weh?« Sie spricht mit ihr, wie sie es immer tut, und manchmal kommt eine Antwort. Ein Blinzeln vielleicht oder ein Lächeln, manchmal auch ein Nicken oder Kopfschütteln. Jasmina starrt ihre Mutter an, die Augen weit nach oben gedreht, bäumt sich auf und grelle, kreischende Laute hallen durch die Küche.
Ottilie befreit Jasmina von den Gurten und nimmt sie in den Arm. Wie leicht sie noch immer ist, wie filigran. Dann versucht sie, ihr zu entgleiten. Das Kind zuckt und bebt und brüllt. Verzweifelt rennt Ottilie mit Jasmina ins Kinderzimmer und legt die Kleine in das Gitterbett. So hat sie’s weich und kann sich nicht verletzen.
Jasmina liegt auf der Seite, die Beine spastisch an den Körper gezogen und Ottilie rennt zum Telefon.
Es dauert eine Weile, bis sie den behandelnden Arzt erreicht. In ihren Ohren klingelt es, die Schreie brennen sich durch ihre Haut wie glühende Messer.
»Ist sie vielleicht zornig?«, fragt der Arzt süffisant.
» Zornig?«, brüllt Ottilie zurück. »Hören Sie das nicht im Hintergrund? Sie gebärdet sich ...«
» Sie ist, soweit man das bei ihr sagen kann, gesund. Das haben wir heute festgestellt. Sie kann keine Schmerzen haben.«
» Aber was ist es dann?«
Der Arzt versucht freundlich zu sein und Ottilie spürt, dass er vom Geschrei, das er am Telefon hört, genervt ist. »Ich glaube, sie ist bockig und will etwas. Sie versucht, ihren Willen durchzusetzen. So etwas kommt vor. Sie ist jetzt in einem Alter, das man bei einem jüngeren gesunden Kind die Trotzphase nennt. Sie kennen das bestimmt, Kinder, die sich im Supermarkt auf den Boden werfen, kreischende, zuckende Sprösslinge am Süßigkeitenregal und völlig überforderte Eltern. Vergessen Sie nicht, es handelt sich um Kinder, die die Worte ihrer Eltern begreifen und trotzdem nicht aufhören. Jasmina wird Ähnliches empfinden. Es sind die Hormone, Frau Wille. Es liegt jetzt an Ihnen, ob Sie demnächst tyrannisiert werden, oder nicht. Setzen Sie sich durch. Jasmina verträgt das. Wie ich weiß, behandeln Sie Ihre Tochter ansonsten auch völlig normal. Dann bleiben Sie jetzt dabei.«
Ottilie wirft bockig den Hörer auf die Gabel.
Zorn? Trotz?
Ja, das könnte sein. Aber was fordert das Kind? Es kann sich nicht begreiflich machen. Vielleicht würde Ottilie es ihr zugestehen, wüsste sie, um was es geht. Doch das weiß nur Jasmina, dort drinnen, in ihrem grässlichen Gedankengefängnis, in dem sich Bilder wie Blüten ausbreiten, von denen Ottilie nichts ahnt.
Sie hat das Gefühl, die Schreie kreiseln sich immer höher, wie ein Wirbelsturm, der sich wie ein rückwärts laufender Film spiralenförmig in den Himmel schraubt. Oder liegt es daran, dass sie sich auf den Lärm konzentriert? Sollte sie lieber weghören? Aber wie kann man weghören, wenn man auf der einen Seite Mitleid hat, dazu Sorge kommt und Wut. Ja, Wut! Denn falls es Trotz ist, hat Jasmina genauso wenig wie andere Kinder das Recht, die Mutter zu peinigen. Entweder sie versucht, Jasmina wie ein gesundes Kind zu behandeln, oder sie tut es nicht.
Es ist eine Frage der Konsequenz!
Sie geht zurück ins Kinderzimmer. Jasmina liegt auf dem Rücken und starrt ihre Mutter an. Sie wird lauter und lauter und kreischt regelrecht, ein Ton, der sich wie ein Messer in Ottilies Gehör schält und sie brüllt:
» Halt die Klappe, verdammt noch mal!«
Jasmina schnappt nach Luft, einen Atemzug lang herrscht Stille, wunderbare Stille, und wird lauter. Geht das überhaupt noch? Wie kann diese Lautstärke aus einem so kleinen Körper kommen? Ottilie sieht Jasminas Blick und begreift im selben Moment, dass der Arzt Recht hat. Jasmina will ihre Mutter austesten, will Grenzen ausloten und neue Grenzen festmachen.
Sie dreht sich um und geht zurück in die Küche, wo sie beginnt, die Scherben aufzufegen. Viel lieber würde sie Jasmina ein paar auf den Po geben, was durchaus passieren kann, wenn sich die Kleine zu übermütig gebärdet und stets sehr effektiv ist. Aber sie erinnert sich an trotzige Kinder und deren Eltern und daran, wie sinnlos es ist, ein Kind zu züchtigen, wenn es auf diesem Trip ist.
Wenn man durch Körperkontakt, Milde und Vertrauen keine Beruhigung erzielt, bleibt nur noch Ignoranz. Soll sie schreien ...
Nach dreißig Minuten ertappt Ottilie sich dabei, dass sie durch die Wohnung tigert
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