Die Mitte des Weges: Roman (German Edition)
hingehen. Ich finde Frank lustig.«
Aus irgendeinem Grund will Thomas nicht, dass man seinen Vater ... lustig findet.
Sie nähern sich dem Hauptausgang. Immer mehr Menschen verlassen die Wiesn. Hin und wieder sieht man Betrunkene, die auf allen Vieren über das Gras krabbeln, sich auskotzen oder bewusstlos zwischen den Zelten liegen. Sanitäter transportieren die Bierleichen weg.
Man rempelt sich an, viele schwanken. Punks wedeln mit Bierflaschen und Besucher in Bayerntracht singen Arm in Arm. Japaner verstauen ihre Kameras und es wird englisch, italienisch und französisch gesprochen. Andere wiederum wirken ruhig und erschöpft und verlassen die Wiesn mit schweren Beinen.
Zwei Männer in grünen Parkas und ein dritter Mann, der auffällige weiße Schuhe trägt, beugen sich über eine Plastiktüte.
Thomas hört, wie einer sagt: »Ich wollt’s nicht, ich kann nichts dafür, bringt’s mich um.« Seltsame Worte. Vermutlich hat er sich das nur eingebildet. So viele Stimmen, es geht hin und her und von hinten drücken Volksmusik, Gelächter und Stimmengewirr.
Im selben Moment ändert sich alles.
Den dritten Mann, den mit den weißen Schuhen, zerreißt es in seine Einzelteile. Beine, Arme und Fleischfetzen fliegen durch die Gegend. Erst dann hört man den Knall, ein dunkler Laut, der ohrenbetäubend laut ist und sich in die Köpfe der Menschen schraubt. Eine grelle Stichflamme schießt in den Himmel und brennt sich auf die Netzhaut desjenigen, der zufällig hinschaut. Die Druckwelle fegt Thomas von den Beinen. Lydia neben ihm schreit, Vater und Mutter liegen auf dem Boden.
Eine Explosion!, durchfährt es Thomas und am liebsten würde er lachen, denn das ist doch klar. Na klar. Er ist auf dem Oktoberfest und es gibt eine Explosion. Überall gibt es Sensationen. Und das gehört vermutlich dazu. Fleischfetzen und der Typ in den weißen Schuhen. Vermutlich Zauberkünstler. Wow! So etwas vergisst man nicht und kommt im nächsten Jahr wieder. Bummbumm!
Er springt erstaunlich leichtfüßig wieder auf.
Nicht weit entfernt steht ein Mädchen, dessen Haare Feuer gefangen haben. Sie brennt!
Zaubertrick? Oh nein!
Thomas zieht seine Jacke aus und wirft sie ihr über den Kopf. Sie geht in die Hocke und verkriecht sich unter dem qualmenden Stoff.
Auf einem nahestehenden Taxi liegt ein Mensch, oder das, was von ihm übrig ist. Seine zerfetzten Teile rutschen von der Motorhaube. Es ist der Mann ohne Parka. Thomas erkennt ihn an den weißen Schuhen, aus denen blutige Fleischklumpen ragen. Wiesnbesucher rennen kreischend in alle Richtungen. Von der Explosion zerstückelte Leichen pflastern den Ausgangsbereich.
Verletzte Menschen versuchen aufzustehen, rutschen stöhnend über den Asphalt, und Thomas steht inmitten des Chaos und wundert sich, dass es ihm gut geht. Nichts tut ihm weh. Die Frau kriecht unter seiner Jacke hervor und ihr tränennasses Gesicht sieht aus wie das einer alten Frau.
»Lydia! Papa! Mama!« Er weiß nicht, um wen er sich jetzt zuerst kümmern soll und nimmt erleichtert wahr, wie Vater sich aufrappelt, wobei er Mutter mit in die Höhe zieht.
Frank Willes Verstand rast. Wohin man blickt, winden sich Verletzte und überall liegen Tote, viele von ihnen sind verstümmelt. Blitzgewitter der Erinnerungen schneiden in Franks Gehirn und er ist wieder in Kambodscha. Er kennt die Geräusche, die Menschen von sich geben, denen die Gliedmaßen abgerissen sind, deren Därme sich aus dem von der Druckwelle geplatzten Körper ringeln, und er kennt den Geruch nach Sprengstoff, Blut und Panik. Süßbleiern, vermischt mit der Schärfe von Hexogen.
Lotte, die wie versteinert um sich blickt, sieht in drei Taxen Männer hinter verschlossenen Scheiben unhörbar in ihren Sprechfunk schreien, während in weiter Entfernung die ersten Sirenen ertönen. Krankenwagen. Feuerwehr. Polizei.
» Ich dachte, der Krieg ist vorbei«, stöhnt sie und weiß nicht, ob sie es denkt oder sagt. Das hat sie so oft gesehen. Opfer von Handgranaten oder Bodenminen. Sie hat ein grausiges Déjà vu.
Schreie, die durch die Nacht hallen, helles Kreische n voller Schmerz und Angst und weinen, das einem bis ins Mark fährt.
Thomas staunt über das viele Papier, das der Wind durch die Luft trägt, und er staunt darüber, wie ruhig plötzlich alles wird. Niemand schreit mehr, keiner weint, alles ist verstummt. Sind die Sterbenden tot? Sind die Verletzten ohnmächtig? Er steht inmitten von Toten und Verletzten und jeder, der
Weitere Kostenlose Bücher