Die Mondrose
Blick grub sich in das Gesicht der Frau. Sie sah ihn ebenfalls an, so gebannt, dass ihr die Hand des Kindes entglitt. Eine kleine Ewigkeit lang standen sie reglos einander gegenüber, ohne zu bemerken, dass Passanten gegen sie prallten, dass Händler mit Karren fluchten, weil sie ihnen den Weg versperrten, dass junges Volk sich neugierig und spöttisch um sie scharte. Anstatt sich unauffällig aus dem Staub zu machen, fühlte Sukie sich gezwungen, näher heranzutreten, bis sie alle Einzelheiten sah.
Warum quälte sie sich so? Sie hatte in Victors Augen noch nie solchen Hass gesehen, doch auch noch nie solchen Glanz. Sukie mochte vom Lande stammen, aber was Victor betraf, war ihre Beobachtungsgabe unschlagbar und ihr Gedächtnis fehlerlos. Sie hatte gesehen, wie er damals mit der Frau das Haus verlassen hatte, den Arm um ihre Taille gelegt, um sie vor allem Bösen der Welt zu schützen. Dass der Mann, nach dem sie sich sehnte, diese Frau mit solchem Feuer hasste, weil er sie einst mit demselben Feuer geliebt hatte, traf sie wie ein Schlag. Waren nicht er und sie von einer Art – getretene, verachtete Menschen, die ihre Kraft darauf verwandten, ein Leben in Anstand zu führen? Hätten nicht er und sie einander den Halt geben können, den sie von niemandem sonst bekamen?
Diese Frau hatte alles – Geld und Glanz, einen Mann und zwei Kinder. Auch wenn Bernice Weaver vor ihr die Straßenseite wechselte, wie sie es sonst nur vor Frauen wie Sukie tat, gehörte sie in jene andere Welt, in die weder Sukie noch Victor aufsteigen würden. Vor allem aber gehörte sie einer Familie an, vermutlich einer alten und weitverzweigten, die im Notfall ein Netz unter ihr spannte, während Sukie und Victor keinen Menschen hatten. Was wollte er von ihr? Sah er nicht, wie kalt sie würde, wie sie ihn kränken würde, während Sukie ihm den Respekt, den er verdiente, und alle Wärme der Welt geben würde?
Victor, der mit so viel Anstrengung auf tadelloses Betragen bedacht war, spuckte auf den Boden wie ein Gassenjunge. Dann wandte er sich ab und ging davon. Die Frau blieb kurz stehen, dann ging auch sie, manövrierte den Kinderwagen um die Spucke und kümmerte sich nicht darum, dass zwei Herren schimpfend aus dem Weg springen mussten.
An diesem Tag erledigte Sukie ihre Besorgungen langsam und unzuverlässig und kam erst nach Einbruch der Dunkelheit nach Milton’s Court zurück. In ihr herrschte ein solcher Aufruhr, dass ihr der Gedanke, wie jeden Abend allein ihren Tee zu bereiten und sich schlafen zu legen, unerträglich war. Die Aufwarterin hatte eingelegtes Gemüse und kalten Braten beiseitegestellt, aber Sukie hatte keinen Appetit. Sie hätte gern Brandy getrunken, um sich zu beruhigen. Konnte sie Victor wohl bitten, ihr welchen zu geben?
Zögerlich ging sie die kurze Stiege hinauf zu seinem Arbeitszimmer. An der neuen Tapete hing der Stich eines Mädchens, den er vor kurzem erworben hatte. War das auch eine, die er geliebt hatte? Sie sah der Frau mit den Kindern nicht ähnlich, war zart und hatte feines Haar. Sukie klopfte an die Zimmertür. Als hätte er dahinter gewartet, drückte er die Klinke hinunter. So dicht standen sie auf einmal voreinander, dass er sie auf den Kopf hätte küssen können, wenn er es nur gewollt hätte.
»Sukie«, murmelte er, als müsste er sich ihren Namen ins Gedächtnis rufen. »Habe ich Sie gestört?«
»Aber nicht doch – womit sollten Sie mich gestört haben?«
»War ich nicht laut?«
Sie schüttelte den Kopf, dann wagte sie endlich, zu ihm aufzusehen. Sein Gesicht, das sie so sehr mochte, sah aus wie von Qual zerfurcht. Scharfe Falten um den Mund und auf der Stirn, schwarze Schatten um die Augen. Ohne nachzudenken fragte sie: »Kann ich Ihnen helfen?«
Erstaunen, ja Unverständnis glomm in seinen Augen auf. Dann verzog er den Mund zu einem Lächeln. »Sie sind sehr nett, Sukie. Ich fürchte aber, heute Nacht kann mir niemand mehr helfen, und wer es morgen kann, steht in den Sternen.«
»Manchmal hilft es, wenn man sich einer anderen Menschenseele anvertraut«, erwiderte Sukie, obwohl sie damit keine Erfahrung besaß und auch nichts hören wollte von seiner Hassliebe zu der Frau mit dem Kinderwagen.
Sie hatte es gesagt, weil sie es sich auf einmal selbst wünschte – nicht allein sein müssen in der Nacht, die für die Jahreszeit zu kalt und stürmisch war, bei ihm sitzen, Brandy trinken, mit ihm reden.
So hübsch, wie das Lächeln ihn machte, war es eine Schande, dass er es so selten
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