Die Mondrose
das Haus anstarrte, war nicht töricht. Es war etwas, das sie gern vergessen hätte, aber nicht vergessen würde – sie liebte dieses Haus. Es war das Haus aus ihrem Traum, und es würde sich, solange sie auch suchte, durch kein anderes ersetzen lassen.
Obwohl der Schneefall heftiger wurde und unter das Vordach wehte, hielt sie vor der Tür kurz inne. Wie oft hatte sie das Haus betreten, nicht selten gebeugt von Sorgen oder krank vor Angst. Sobald sie aber einen Fuß über die Schwelle gesetzt hatte, war alle Last leichter geworden. Der Charme und die Wärme des Hauses hatten sie umfangen, und sie hatte bei sich gedacht: So schlimm ist es doch nicht. Mein Haus nimmt mir keiner – und für mein Haus und meine Familie werde ich es schon schaffen.
Heute war alles anders, und dass es so, wie es gewesen war, nie wieder sein würde, erfasste sie beim ersten Schritt durch die Tür. Es war nicht der Geruch, der ihr entgegenschlug, denn der war hier, in der Halle, schwach und fiel ihr erst auf, als sie schon fast die Treppe und die Tür, die zum Gang in den Küchentrakt führte, erreicht hatte. Es waren die Kälte und die Stille, eine Finsternis, die sie in Mount Othrys nie gekannt hatte, und eine Leere, die verriet, dass in diesem Haus nichts lebte. Mildreds Herz schlug ihr wie mit Hämmern bis in die Kehle, und in den Ohren begann ihr Blut wie das winterliche Meer zu rauschen. Ihre forschen Schritte verlangsamten sich, wurden zaghaft und starr. »Daphne«, rief sie mit schwachem Stimmchen, das unmöglich ihr gehören konnte. Die Schwester gab keine Antwort. »Priscilla?«, rief Mildred ein wenig lauter. »Sarah? Anne?« Wieder kam keine Antwort. Hatten sie alle miteinander Ausgang? Daphne hatte ja ein Herz wie Butter und schickte sie womöglich zum Adventssonntag heim. Aber wer kümmerte sich dann um die kränkliche Esther, doch wohl nicht die alte Nell?
Mildreds hämmerndes Herz schien abrupt zu erstarren. Wo war Nell? Wo waren Pebbles und Louis? Für die Stille der Dienstboten mochte es eine harmlose Erklärung geben, aber dass die herrschsüchtige Alte, das Kind und der Welpe nicht in der Halle auftauchten, ließ sich nicht verharmlosen. Etwas ging vor in den schweigenden Räumen, etwas, das unheilvoll und beklemmend und nicht mehr zu ändern war. Mildred brauchte all ihren Mut, um in Richtung Küchentrakt weiterzugehen. Vielleicht war dies der Moment, in dem sie den Geruch bemerkte. In viel schwächerer Form hatte sie ihn schon häufig wahrgenommen, doch die ätzenden Schwaden, die mit jedem Schritt dichter wurden, hatten damit nichts zu tun. Ehe sie husten musste, schlug sie sich ihr Schultertuch vor den Mund.
Der Drang, umzukehren, aus dem Haus zu fliehen und in Victors Kutsche im Galopp davonzufahren, war schier übermächtig. In ihrem ganzen Leben aber hatte Mildred der Wahrheit nie ausweichen können. Kannte sie sie schon, als sie die Hand auf die Klinke senkte? Im Gang, der zur Küche führte, schlugen die Schwaden sie blind. Nach Atem röchelnd stolperte sie weiter, erreichte die Tür der Hauptküche und riss sie auf.
Nein, sie hatte die Wahrheit nicht gekannt, es war keine Wahrheit, die man hätte kennen können. Das Bild, das sie trotz der betäubenden Wolken glasklar sah, schnitt sich in ihr Gedächtnis, wo es für immer bleiben und alle anderen Bilder überlagern würde. Nichts, was sie vorher gesehen hatte, hatte sie darauf vorbereitet, und alles, was sie später sehen würde, sollte dagegen verblassen. Es war der Anblick, der ihr Leben prägte.
Ihrer starken Natur war es zu verdanken, dass sie nicht das Bewusstsein verlor, sondern die Kraft fand, zu schreien und davonzulaufen, durch den Gang und die Halle und hinaus ins Freie. Sie schrie immer weiter, schrie und rannte, bis wie ein Baum Victor vor ihr aufragte und sie in seine Arme riss. Er fragte sie nichts, er hielt sie nur fest und gab ihr wieder und wieder dieselben Worte zur Antwort: »Aber ja, ich helfe dir, mein Geliebtes, natürlich helfe ich dir.«
Es dauerte endlose Momente, bis Mildred so weit gefestigt war, dass sie gehen konnte. Es half nichts, sie wussten es beide. Sie mussten ins Haus zurück. Schweigsam und Hand in Hand traten sie den Weg an, wie zwei Kinder, die eine Missetat begangen hatten und schlichen, um ihre Strafe zu empfangen. Welche Tat aber hatten sie begangen? Und welche Strafe konnte es geben, um das Getane auszulöschen? Mit jedem zitternden Schritt auf das Grauen zu wurde klarer, dass ihre Strafe lebenslang und das
Weitere Kostenlose Bücher