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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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gebracht war, sondern weil er vor Beginn der Operation den Zerstäuber verwendet hatte, den der Chirurg Joseph Lister für die Vernebelung von Phenol empfahl. Dieser Lister war so praktisch wie genial. Phenol wurde im Kampf gegen den Gestank aus Abwasserkanälen verwendet, weshalb sollte es nicht auch taugen, um die Verschmutzung von Operationswunden zu verhindern? Auch diese Maßnahme, die Hyperion in seinem Operationssaal eingeführt hatte, wurde hinter seinem Rücken belächelt, aber er scherte sich darum nicht mehr. Gut, wenn eine Handvoll Menschen über mich lacht – zum Weinen bringe ich ja genug.
    Sachte, wie er sein Kind zu Bett gebracht hatte, ließ er den toten Jungen in den Blechbehälter gleiten. Gute Reise, Kleiner, wohin immer du gehst. Und wenn es das Nichts ist – vielleicht ist es ja besser als das, was das Leben dir zu bieten hatte. Tränen hatte er schon lange keine mehr, doch gegen die würgende Verzweiflung kämpfte er noch immer an. Er würde nach London fahren und noch ein kombiniertes Seminar in Chirurgie und Geburtshilfe abhalten, es mochte ihn kosten, was es wollte. Weibliche Leichen waren praktisch nicht aufzutreiben, da nur selten Frauen hingerichtet wurden, aber eine andere Möglichkeit als immer wieder zu üben, Methoden zu verfeinern und frische Talente heranzubilden, gab es nicht. Zuweilen bemerkte er, dass er von dem Gedanken, das Leben von Frauen und Kindern zu retten, besessen war. Als brächte ihm, wenn er nur seine Kraft über jedes Maß hinweg ausbeutete, eine mitleidige Gottheit seine Frau und sein Kind zurück.
    Mitunter, wenn er sich so wie an diesem Abend auf ganzer Linie als Versager fühlte, wünschte er sich, einem Kind zu begegnen, dessen Leben er gerettet hätte, einem gesunden, wohlgestalteten Kind, das ihm die Hand reichte und in munterem Ton zu ihm sagte: »Erinnern Sie sich nicht, Herr Doktor? Sie haben mir doch damals das Leben gerettet?«
    Lydia Alexandrina Burleigh fiel ihm ein, das kleine Mädchen, dem er den Luftröhrenschnitt gesetzt und einen albernen Abakus geschenkt hatte. War sie der nächsten Diphtheriewelle erlegen oder den Torturen im Arbeitshaus?
    Und die kleine Hatwick, die er zu den Waisen hatte schicken müssen, weil ihre Mutter am Fieber verreckt war und er vergessen hatte, ihren Vater zu suchen. Gewiss hatte auch sie Entbehrung und Hoffnungslosigkeit nicht lange überlebt. Wozu quälen wir die Leute überhaupt? Um ihnen das Sterben schwerer zu machen, als wäre ihr Leben nicht schwer genug?
    »Haben Sie mich gehört, Herr Doktor?«, fragte der junge Ackroyd vorsichtig nach.
    »O nein, bitte verzeihen Sie«, erwiderte Hyperion eilig. »Ich war wohl in Gedanken.«
    »Sie brauchen mehr Ruhe«, bemerkte Ackroyd, der nicht nur ein begabter Arzt, sondern auch ein netter Mensch war, aber Menschen, die nett zu ihm waren, ertrug Hyperion noch schlechter als andere.
    »Wollen Sie damit sagen, dass ich nicht imstande bin, meine Arbeit zu tun?«, herrschte er ihn an.
    »Natürlich nicht.« Ackroyd zuckte zwar zurück, blieb aber bemerkenswert ruhig. »Und was Sie brauchen oder nicht, geht mich selbstredend nichts an. Ihre Schwägerin war hier, während Sie die Kniescheibenfraktur operierten. Sie bat mich auszurichten, dass sie Sie sprechen muss und dass Sie heute Abend nach Hause kommen sollen.«
    Nach Hause – wo war das, wenn nicht hier? Der Operationssaal war der letzte Ort, an dem er sich nicht gänzlich fehl am Platze fühlte. In dem Haus, das noch immer als seines galt, war er ein Störenfried. Mildred und die Kinder kamen allein zurecht, und seine Großmutter behandelte ihn, als wäre er nicht vorhanden. Seit jenem Tag, an dem er aus London gekommen war und sie ihn schreiend gefragt hatte, ob er nicht wisse, wo Daphne und Louis seien, hatte sie mit ihm kein Wort mehr gesprochen. Keinen Gruß, keinen Vorwurf, keine Klage. Sie selbst hatte samt dem Kindermädchen jenen fatalen Adventssonntag in einem Gasthaus in Petersfield verbringen müssen, da die kleine Esther einen Schwächeanfall erlitten hatte und nicht reisen konnte. Bei ihrer Rückkehr waren Daphne und Louis fort gewesen, und kein Mensch hatte sie seither gesehen.
    Nein, Mount Othrys war nicht länger sein Zuhause, es war der Gerichtssaal, in dem aus jedem Winkel seine Anklage gellte. Auch wenn Mildred alles, was an seine Frau und sein Kind erinnerte, aus dem Haus geschafft hatte, war die Erinnerung überall lebendig. Hier hatte Louis auf dem Teppich gelegen und das hölzerne Pferdegespann hin

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