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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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schlecht, und außerdem verabscheute Victor sie. Aber Sukie konnte sich nicht helfen, je länger sie ihr zusah, desto mehr faszinierte sie sie. Sie vergaß ihren Einkauf und ging ihr auf der anderen Straßenseite hinterher.
    Die Zeile mit den schönen Geschäften hinunter kamen ihr zwei Frauen entgegen, auch diese damenhaft gekleidet mit den breitkrempigen Hüten der Frühlingssaison. Die eine war dick wie aufgepumpt, die andere schlank, mit dichten Wellen schwarzen Haares und einem Gesicht, das schön war, ohne gefällig zu sein. Die Dicke schwatzte auf die Schöne ein, bis sie der Dame mit dem Kinderwagen ansichtig wurden. Abrupt blieben beide keine zwei Schritte vor dem Wagen stehen. Die Frau blieb ebenfalls stehen und hob eine Hand zum Gruß. Statt die Geste zu erwidern, kreischte die Dicke auf, schwang herum und überquerte in schnaufender Empörung die Straße. Kaum bekam Sukie ihr Gesicht zu sehen, erkannte sie sie: Es war Bernice Weaver. In den zwei Jahren, seit Sukie ihr Haus verlassen hatte, mochte sie an Umfang das Doppelte zugelegt haben.
    Als Bernice bemerkte, dass die Schöne ihr nicht gefolgt war, rief sie zu ihr hinüber: »Nun komm schon, Maria! Willst du vielleicht, dass man annimmt, du stündest mit so einer auf gutem Fuß?«
    Die Schöne warf den Kopf in den Nacken und verzog amüsiert den Mund. »Nun, zumindest ansehen will ich mir den Bankert«, rief sie ohne jeden Takt und spähte in den Wagen. »Wann bekommt man denn so etwas schon zu Gesicht, wenn man nicht gerade im Arbeitshaus von Portsea Island verkehrt?«
    Sukie, die scharfe Augen hatte, sah, wie die andere vor Zorn erbebte, wie sie weitergehen und das Kindchen mit sich zerren wollte, wie aber die Scham es ihr verwehrte, auch nur einen Schritt zu tun. Stumm und zitternd musste sie dulden, dass die Schöne das Verdeck des Wagens zurückschob und das Kleinkind betrachtete wie eine der Missgeburten im Raritätenkabinett.
    »Wie erstaunlich!«, rief sie aus. »Weshalb gedeihen eigentlich in Sünde geborene Bälger oft so viel besser als die eigenen Hätschelkinder? Schau dir das an, Bernice! Deine Nora ist ein Fall für die Armenspeisung gegen diesen Wonneproppen, und heller als dein kahler Schwachkopf wirkt das Balg allemal.«
    Die Angesprochene wandte nicht einmal das Gesicht, das hochrot angelaufen war. »Ich schäme mich in den Boden«, stieß sie keuchend aus. »Wo noch nicht einmal feststeht, dass die da keine Mörderin ist!«
    Ja, fand Sukie, von einer Mörderin hatte die Frau etwas an sich, auch wenn sie in ihrem Leben noch keine Mörderin gesehen und auch nie darüber nachgedacht hatte, wie sie sich eine vorzustellen hatte. Irgendwo in Wiltshire hatte eine Frau ihren kleinen Bruder erstochen, und ein Mensch, der das fertigbrachte, der so viel Eiseskälte in sich hatte, musste aussehen wie die Frau mit dem Kinderwagen.
    Die Schöne namens Maria stierte unbeeindruckt weiter das Kind an, aber dessen Mutter hatte endlich ihre Starre überwunden. Mit einem Ruck stieß sie den Wagen vorwärts, so dass Maria beiseitegeschleudert wurde und sich an einem Laternenpfahl festklammern musste, um nicht aufs Pflaster zu stürzen. Mit langen Schritten, mit denen die Kleine unmöglich mithalten konnte, stürmte sie die Straße hinunter, ließ deren Hand kurz los und verpasste ihr grundlos einen Katzenkopf.
    Sukie war schon auf dem Sprung, um ihr zu folgen, als ein Mann die Treppe vor dem Postamt hinuntereilte und die Frau damit zu einem jähen Halt zwang. Jenen Mann hätte Sukie unter Hunderten von Männern erkannt. Er überragte sie alle. Seine Schultern waren so breit, dass er, wie Hector Weaver einmal gespottet hatte, auf einer jeden einen Sarg hätte tragen können. Victor März. Sukie liebte ihn. Er hatte sie von der Straße aufgelesen, nachdem ein Kerl ihr das Gesicht zerschlagen hatte. Er hatte sie gesund gepflegt, ihr ein Heim und Kleidung gegeben und sie behandelt wie einen Menschen, der ein Recht auf Würde besaß. Sie hätte alles für ihn getan – und jetzt erwischte er sie ausgerechnet bei dem Einzigen, das er ihr verboten hatte, beim Verkehr mit der Frau?
    Aber sie hatte ja nicht mit ihr verkehrt! Sie war nur die Straße entlanggegangen, wo sie wie immer Einkäufe für ihn erledigte, und dass ihr die Frau dabei über den Weg gelaufen war, war schließlich nicht ihre Schuld. Allem Anschein nach hatte sie jedoch ohnehin keinen Grund, sich zu sorgen, denn Victor schien sie nicht einmal wahrzunehmen. Er war im Schritt erstarrt, und sein

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