Die Mondrose
Grauen unauslöschlich war.
»Wir müssen sie fortschaffen«, flüsterte Mildred. »Sie können hier nicht bleiben. Hilfst du mir?«
»Aber ja doch«, flüsterte Victor noch einmal zur Antwort. »Ich helfe dir, mein Geliebtes. Natürlich helfe ich dir.«
Mehr sprachen sie nicht, und es war, als würden sie nie wieder sprechen. Über seine Wangen rannen Tränen, und sie neidete sie ihm, weil sie keine hatte.
Teil II
Mildred
»Who told you so, dilly dilly,
Who told you so?
T’was my own heart, dilly dilly,
That told me so.«
Kapitel 22
Portsmouth, April 1866
S ukie sah die Frau nicht zum ersten Mal. Sie ging immer denselben Weg, die Hauptstraße von Southsea entlang und hinein nach Portsmouth, ein Stück die Einkaufsstraße hinunter und auf den Platz mit der Kathedrale. Dort setzte sie sich, sofern das Wetter es erlaubte, auf eine Bank und packte aus dem Korb, der am Griff des Kinderwagens baumelte, zwei Sandwiches aus. Eines aß sie selbst, das zweite teilte sie zwischen den Kindern. Das kleine Kind in seinem Wagen war zu jung für Sandwiches, es hatte kaum Zähne und verschluckte sich, was es aber nicht hinderte, auch den nächsten Bissen hinunterzuschlingen. Das größere Kind, ein bedauernswert schmächtiges Ding, hielt seinen Anteil in der Hand, ohne abzubeißen, bekam einen Katzenkopf und begann daran zu nagen, ließ das Brot schließlich wieder sinken und hielt es von neuem in der Hand, bis der nächste Katzenkopf es aus seinen Gedanken riss.
Es war ein beträchtlicher Weg, um ihn mit dem Kinderwagen zu gehen. Der Wagen war aus Rosenholz, kein neues, aber ein wunderschönes Modell mit hohen Rädern und einem Griff aus Keramik. Als Kinderfrau hätte Sukie über das Gewicht gestöhnt. Noch schwerer jedoch war der Weg für die kurzen Beinchen des Kindes, das die Frau an der Hand führte und unerbittlich mit Katzenköpfen bedachte, wenn es sich nicht schnell genug vorwärts zerren ließ.
Einmal stolperte das schmächtige Ding und fiel vornüber in eine Pfütze, dass das weiße Kleid vor Nässe triefte. Die Frau riss es am Arm in die Höhe und versetzte ihm einen Klaps aufs Hinterteil. Vor Empörung schüttelte sich Sukie. Natürlich brauchten Kinder Zucht, aber das Mädchen, das keine drei Jahre alt sein konnte, schien so brav darauf bedacht, alles recht zu machen. Tapfer schweigend stapfte es seines Weges, während das Kleine im Wagen munter krakeelte.
Hatte das Mädchen sein Kleid beschmutzt, ging die Frau nicht zum Platz, um im Schatten der Kathedrale Brote zu essen, sondern kehrte auf der Stelle um und ging ohne Pause den Weg zurück.
Sukie bekam die Frau so häufig zu Gesicht, weil sie mehrmals in der Woche bei einem Metzger am Rand von Southsea Fleisch einkaufte. Fleischabfälle zwar, aber von erlesener Qualität. Dem Eintopf, den sie daraus kochte, merkte kein Gast an, dass er nicht aus den Stücken erster Wahl bereitet worden war. Es gab eine Menge Gäste, die jetzt, ehe die Saison begann, ans Meer reisten, um reduzierte Preise zu nutzen, und so wie Sukie wirtschaftete, machten sie auch von denen, die sich wenig leisten konnten, noch Gewinn. Wenn sie Victor vorrechnete, was sie ihm eingespart hatte, lobte er sie, und obwohl er geistesabwesend blieb und sie kaum ansah, freute sie sich. Davon, dass sie so oft der Frau mit den zwei Kindern zusah, sagte sie ihm nichts, denn dafür hätte er sie nicht gelobt.
Ein einziges Mal hatte sie ihn etwas über die Frau gefragt, und er hatte ihr ins Gesicht geschrien, der Name dieser Person werde in seinem Haus nicht genannt und kein Mitglied seines Haushalts verkehre mit ihr. Wenn sie sich daran nicht halte, solle sie zum Teufel gehen. Dass Victor, der sanfteste Mann, den sie kannte, sie derart behandelte, erschreckte sie so tief, dass sie nie wieder versuchte über die Frau mit ihm zu sprechen.
Sie schämte sich ja selbst, weil sie ihre Neugier nicht bezähmen konnte, sondern ihr wie unter Zwang hinterherschlich. Sooft sie sich aber vornahm, sie künftig nicht mehr zu beachten, so oft scheiterte sie. Wenn ich ihn fragen dürfte, was ihn und sie verband, bräuchte ich ihr nicht nachzusteigen, dachte sie trotzig, während sie sie trotz des windigen, nasskalten Wetters zügig die Straße heraufkommen sah. Wie immer waren sowohl sie selbst als auch die Kinder tadellos ausstaffiert, die Kleinen in hellen Farben, die Frau im eleganten dunklen Cape. Sukie wollte sie samt ihrer Aufmachung abscheulich finden, schließlich behandelte sie das kleine Mädchen
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