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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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und der Eiter in die Bauchhöhle quoll. Im Handumdrehen käme der Schmerz zurück, und mit ihm träte der Tod in den Raum, um den Jungen in die Arme zu reißen.
    Der Junge war so alt wie Louis. Er würde nicht älter werden.
    »Robert ist doch mein Einziger«, sagte die Frau weinend. »Er geht zur Schule. Er lernt so gut.«
    Robert würde nicht weiter lernen, und sein Tod, den seine Mutter miterleben musste, würde qualvoll sein.
    Es sei denn, ich schneide ihm den Appendix heraus.
    Hyperion wusste, was Kollegen von ihm sagten: »Hüte dich vor Dr. Weavers Skalpell!« oder: »Der Weaver ist vom Schneiden so besessen wie vom Waschen.« Manchmal übte er nächtelang an Puppen, Blutbahnen abzuklemmen, Schnitte zu setzen und beim Vernähen Blutungen zu stoppen. Solange wir nichts haben, um die Krankheit zu heilen, bleibt uns nur, das Organ zu entfernen, ehe uns der Körper stirbt. Noch immer hatte die Chirurgie nicht die Anerkennung gefunden, die ihr gebührte, aber es gab Ärzte, die anders dachten. Der junge Ackroyd zum Beispiel. Er würde ihm assistieren. In Deutschland hatte ein Chirurg eine Niere entfernt, damit ihm an einer Fistel kein ganzer Mensch starb. Die Schilddrüse ließ sich aus der Kehle lösen und der Uterus aus der Tiefe des Frauenleibes. Warum nicht ein Appendix, den der Körper zum Leben gar nicht brauchte? Zumindest theoretisch war der Schnitt beschrieben worden, er stellte nicht einmal eine besondere Schwierigkeit dar.
    »Ich muss Ihren Sohn operieren«, hörte er sich sagen und sah sich dabei schon nach Ackroyd um.
    Vielleicht hätte er die Operation nicht gewagt ohne Listers Karbolsäure, die er inzwischen bei jedem Eingriff einsetzen ließ. In seinen Augen war die Flasche mit der Säure, die Lister nach den Erkenntnissen von Pasteur und dem Ungarn Semmelweis entwickelt hatte, ein größeres Weltwunder als alle Pyramiden Ägyptens. Sie tötete Keime. Sie rettete Leben. Als er mit Ackroyd den Operationssaal betrat, den die Maisonne in gleißendes Licht tauchte, war Hyperion seiner selbst so sicher, wie er es außerhalb dieses Raums niemals war. Was er tat, war richtig. Dem Tod die Stirn bieten. Um ein Leben kämpfen bis zu dem Augenblick, in dem es verlosch.
    Hatten Chirurgen vor der Erfindung der Narkose ihre Schnitte innerhalb von Sekunden setzen müssen, so hatten sie jetzt Zeit, mit Sorgfalt und Bedacht zu arbeiten. Der menschliche Körper kam Hyperion jedes Mal, wenn er die Hände darauf legte, noch immer wie der einzige Tempel vor, dem er zu huldigen vermochte. Er hatte die Bauchhöhle kaum geöffnet, als er sah, dass der Junge Glück gehabt hatte. Das befallene Organ war nicht aufgebrochen. Und kein Tropfen Eiter ausgetreten. Alles lag so heil und wohlgestaltet an seinem Platz wie bei einem gesunden Kind. Er hatte eine Chance. Wenn jemand dieses Husarenstück von einer Operation überleben konnte, dann der Junge, der Robert hieß, gut lernte und so alt wie Louis war.
    Er überlebte sie. Als eine Stunde später die Naht gesetzt war, atmete er zwar noch flach, aber gleichmäßig, und das Fieber war nicht gestiegen. Die Nacht würde zeigen, ob er es endgültig schaffte – darüber befanden nicht die Ärzte, die ihr Möglichstes getan hatten, sondern eine andere Instanz. Mit geradezu seligem Lächeln ergriff Will Ackroyd seine Hand. »Das war großartig, Dr. Weaver«, sagte er. »Ein Meisterwerk.«
    Hinter seinem Bein drückte sich ein kleines Gesicht mit leuchtenden Augen hervor. »Um Gottes willen!«, entfuhr es Hyperion.
    »Ich bitte um Entschuldigung«, murmelte Ackroyd. »Sie hat sich irgendwie eingeschlichen, und als ich es bemerkte, war es zu spät, sie nach draußen zu bringen.«
    »Nicht Sie trifft die Schuld, sondern mich.« Ratlos sah Hyperion hinunter auf seine Tochter. Kaum zu glauben, dass sie eine Operation am offenen Menschenkörper mit angesehen hatte, ohne zu schreien oder auch nur ein Wort zu sagen. Er wusste, er hätte sie bestrafen müssen, aber etwas in ihren Augen, das Leuchten, hielt ihn zurück. Er vermochte nicht, sie anzurühren, da er die Erregung, die er an ihr wahrzunehmen glaubte, allzu gut kannte.
    Weil Ackroyd und Esther ihn drängten, überließ er den Jungen den Pflegerinnen und ging mit den beiden in die Kantine. »Wir haben etwas zu feiern«, sagte Ackroyd. Vor allem hatten sie dem Kind etwas zu essen zu beschaffen, aber was aß ein Kind dieses Alters? Hyperion hatte keine Ahnung. Zu seiner Erleichterung wollte Esther überhaupt nichts essen, sondern war

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