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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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verursacht werden, nicht durch ein Ungleichgewicht von Säften, wie Menschen seit zwei Jahrtausenden angenommen hatten. Es war wundervoll zu erleben, dass ein Umdenken tatsächlich stattfand, dass eine revolutionäre, mutige Vision begann sich durchzusetzen und neue Wege der Heilkunst zu eröffnen. Es war wundervoll, unter jungen Menschen zu stehen, die darauf brannten, sich auf diesem Feld zu beweisen. Dem Tod einen Kampf zu liefern. Hyperion war fünfunddreißig Jahre alt und fühlte sich nicht im mindesten mehr jung, aber die Zeit, in der er selbst so gedacht hatte, war ihm noch nah.
    Anschließend rief ihn Ackroyd zu einem Notfall, dem Sohn einer Witwe, der sich vor Leibschmerzen krümmte, so dass die Witwe schrie, das Kind werde ihr in den Armen sterben. Als er im Laufschritt den Saal verlassen wollte, sah er in einen Winkel hinter die Bankreihen gedrückt seine Tochter Esther.
    Er hatte Mildred versprechen müssen, das Kind nicht mehr mit ins Spital zu nehmen, er hatte ihr auch versprechen müssen, es streng zu bestrafen, wenn es auf eigene Faust das Haus verließ. Esther aber ließ sich von Strafen nicht schrecken. Es war nicht das erste Mal, dass sie sich in seinem Phaeton versteckte, um unbemerkt ins Spital zu gelangen.
    »Bestraft werde ich sowieso«, bekundete sie gleichgültig, »ob nun Phoebe etwas Böses tut oder Georgia. Da kann ich es genauso gut selbst tun.«
    »Ist das denn so?« Hyperion ging vor ihr in die Hocke. »Bestraft dich Mildred für Dinge, die die anderen tun?«
    »Georgia ist lieb«, erwiderte Esther. »Immer sagt sie zu Mildred: Ich hab’s getan. Aber Mildred will das nicht hören. Darf ich hierbleiben, Vater? Nur heute, nur heute!«
    Es ihr abzuschlagen und jemanden zu suchen, der sie nach Hause brachte, würde kostbare Zeit in Anspruch nehmen, also gab er nach. Mit seiner Tochter im Schlepptau eilte er in den Empfang.
    Mildred hatte recht, das Kind sollte hier nicht sein. Erst kürzlich hatte es wieder etliche Fälle von Diphtherie und zwei von Typhus gegeben. Das Spital war ein Seuchenherd, eine Brutstätte der Gefahr. Andererseits waren hier überall Mütter mit Kindern, sogar solche, die ihre Säuglinge vor der Brust trugen und zwei, drei größere Geschwister an der Hand hielten. Mütter, die keine Wahl hatten, für die das Spital keine Quelle des Übels, sondern die letzte Hoffnung auf Rettung darstellte. Waren die Kinder dieser Mütter weniger schützenswert als sein eigenes?
    »Sieh nur, Vater!«, rief Esther, als würde sie seine Gedanken teilen. »Hier ist ja doch ein Ort für Kinder – überall sind welche.«
    Verwundert sah er auf sie hinunter, ehe er vor den kranken Jungen trat, den die Mutter, umringt von weiteren Patienten, auf die Kacheln des Bodens gebettet hatte. Das Kind war höchstens zwei Jahre älter als Esther. So alt wie Louis. Es krümmte sich und röchelte vor Schmerz. Hyperion ging in die Knie, befühlte die Stirn des Jungen und tastete seinen Leib ab, wobei der Kleine wimmernde Laute wie ein gequälter Hund ausstieß.
    »Wie lange geht es ihm schon so schlecht?«, fragte er die Mutter, die auf der anderen Seite kniete.
    »Ach, seit drei Tagen«, jammerte die Frau.
    »Und weshalb bringen Sie ihn erst jetzt?«
    »Ach«, wiederholte die Frau. »Man braucht ja doch einen Einweisungsschein oder Geld, und wir haben beides nicht.«
    »Hören Sie«, befahl ihr Hyperion, »sagen Sie allen Leuten, die Sie kennen, sie sollen ihre kranken Kinder ins Spital bringen. Warten Sie nicht auf eine Einweisung. Kommen Sie hierher. Es gibt nicht viel, das wir tun können, aber das mag besser sein als nichts.«
    Sie hatten noch immer für jedes Bett fünf Patienten, die darauf warteten. Wenn die Sponsoren Wind davon bekamen, dass er das Einweisungsprinzip überging, würde man ihm die Leitung entziehen, aber für derlei Sorgen hatte er jetzt keine Zeit. »Hat Ihr Sohn sich erbrochen?«, fragte er die Frau, die von neuem zu weinen begonnen hatte und nickte.
    »Und war er noch auf dem Abort?«
    Die Mutter schüttelte den Kopf.
    Mehr brauchte er nicht zu wissen. Eine eindeutige Diagnose war unmöglich, aber in diesem Fall war er sicher. Der Junge hatte eine Appendizitis, und um auf eine Heilung durch althergebrachte Mittel zu hoffen, war die Krankheit zu weit fortgeschritten. Binnen kurzem würde der Schmerz verstummen und Mutter und Sohn in der Hoffnung wiegen, das Schlimmste sei überstanden, während die Pause in Wahrheit bedeutete, dass das entzündete Organ aufgebrochen war

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