Die Mondrose
beschlossen, die Sache nicht aufzugeben, selbst wenn sie mir bisweilen vorkommt, als würde man die Stecknadel im Heuhaufen suchen – in einem schweigenden Heuhaufen, der sein Geheimnis nicht preisgeben will. Einen schönen Tag, Mr Weaver.«
Der Blick, den der Detektiv ihm sandte, war direkter als jeder Vorwurf. In diesem Moment beschloss Hector, die beiden Briefe zu schreiben. Zwei kleine Briefe mit kleinen Forderungen, nur einen winzigen Vorgeschmack auf kommende Freuden. Er brauchte eine Stärkung, die ihn wieder auf die Beine brachte, und hinterher konnte er ja Jahre warten, ehe er den nächsten Schritt unternahm.
Der erste Brief kam drei Tage nach der Nacht im Theater, inmitten der morgendlichen Geschäftigkeit zwischen Kindern, die gefüttert werden, Lieferanten, die Listen erhalten, und Bauarbeitern, die eingewiesen werden mussten. In der Dezembernacht, vor Nässe triefend auf dem Kieselstrand, hatte Mildred Victor gefragt: »Was, wenn uns jemand gesehen hat?«
»Nicht doch, mein Kleines«, hatte Victor sie beruhigt. »Wer soll uns denn gesehen haben?«
Sie wollte mit Victor sprechen. Die Last, die sie trug, war zu erdrückend, um sie allein zu schleppen. Das hier, der Brief, der bestätigte, dass sie in jener Nacht nicht allein gewesen waren, überstieg ihre Kraft. Flüchtig verschaffte ihr die Aussicht, das Entsetzen zu teilen, Erleichterung. Dann fiel ihr ein, dass es den Victor, der den schlimmsten Moment ihres Lebens mit ihr verbracht hatte, nicht mehr gab.
Sie war einsamer als je zuvor. Der Victor, der sie im Theater gestellt hatte, war kein verständnisvoller Verbündeter mehr. Er war ihr Todfeind und der letzte Mensch, mit dem sie sprechen konnte.
Mildreds Herz klopfte langsam und laut wie ein Uhrwerk, während sie Priscilla zurief, sie solle auf die Kinder achten, und dem Schließfach ihres Sekretärs den Vertrag der Building Society entnahm. Sie würde den Mitwisser bezahlen. Geld abheben, in den beigelegten Umschlag füllen und auf dem Postamt aufgeben. Die Summe war nicht hoch. Es bestand noch immer Hoffnung, dass der Erpresser sich damit zufriedengab und aus ihrem Leben wieder verschwand.
Aber Mildred wäre nicht Mildred gewesen, hätte sie daran auch nur einen Herzschlag lang geglaubt.
Kapitel 29
Portsmouth, April 1869
E s war einer dieser Tage gewesen. Sie hatten beim Frühstück gesessen – selten genug kam es vor, dass Victor mit ihr und Charles frühstückte –, er hatte die Post durchgesehen, war jäh aufgesprungen und hatte verkündet, er müsse fort. Seufzend hatte Sukie das Mädchen gerufen und es gebeten, das Gedeck des Herrn abzuräumen.
Sie hatte kein Recht, ihn mit Genörgel zu quälen. Er hatte ihr nie etwas vorgeheuchelt. Letzten Endes hielt er sie wie eine Fürstin, und von dem Leben, das sie führte, konnten die meisten Ehefrauen nur träumen. Allein wenn sie ihr Kind sah, brach es ihr das Herz. Der kleine Charles war so reizend, so zauberhaft, er hätte seinen Vater gewiss für sich gewonnen, wäre der Vater nur je da gewesen, hätte er sein Kind auch nur eines Blickes gewürdigt.
Erneut aufseufzend wollte Sukie sich an ihre Arbeit machen. Sie hatten jetzt auch im Winter Gäste, meist Angehörige der in Portsmouth stationierten Soldaten. Mit ersten Versuchen, einen Luxusflügel auszubauen, war Victor gescheitert. Während der Ansturm auf die billigen Betten beständig anschwoll, blieben die mit allem Komfort versehenen Suiten leer. Wer sich ein solches Quartier leisten konnte, der nahm es nicht auf der Gewürzinsel. Der Misserfolg nagte an Victor, doch die Pension hätte besser nicht laufen können. Sukie wusch längst keine Wäsche mehr, sondern führte wie eine Herrin die Aufsicht über das Personal.
Der Mann war im Empfang vorstellig geworden, und das Mädchen hatte ihn hinüber ins Verwalterhaus geschickt. »Mein Name ist Wolfe. Mr März erwartet mich.«
»Er musste dringend weg«, erklärte Sukie.
»Sie meinen, er hat vergessen, dass er mit mir verabredet ist?«
Und warum wohl nicht?, hätte Sukie am liebsten gefragt. Über diesen seltsamen Briefen vergaß Victor alles, sogar sein eigenes Kind. »Das ist nicht weiter verwunderlich«, erwiderte sie kühl. »Mr März ist ein vielbeschäftigter Mann.«
Wolfe überlegte kurz, dann schüttelte er den Kopf. »Nein, Miss, mich hätte er nicht vergessen. Er weiß, dass ich eine Nachricht für ihn habe, auf die er seit Jahren gewartet hat.«
»Die kann auch ich in Empfang nehmen«, sagte Sukie. »Ich bin keine
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