Die Mondrose
Miss. Mr März ist mein Mann.«
»O verzeihen Sie, er hat nie …« Wolfe hob entschuldigend die Hände.
Er hat nie erwähnt, dass es uns gibt, ich weiß. Vielleicht gibt es uns ja gar nicht, zumindest nicht im Universum von Victor März. Wen gab es dort überhaupt außer ihm selbst und Mildred Weaver?
Wolfe sagte es ihr. »Es geht um seine Schwester Annette.«
Um ein Haar hätte Sukie das Klemmbrett mit den Geschirrlisten fallen lassen. Dabei hätte sie es sich denken können. Ging es nicht um Mildred und die Weaver-Brüder, so ging es um Annette. Nur um sie und Charles ging es nie. »Sagen Sie bloß, Sie haben sie gefunden?«
»Sie sind also eingeweiht?«, fragte Wolfe.
»Ich bin seine Frau«, bellte Sukie zurück. »Was denken Sie – dass mein Mann Geheimnisse vor mir hat?«
»Bitte entschuldigen Sie, Mrs März. Leider ist die Geheimniskrämerei ein Standbein meines Berufs. Um aber auf Ihre Frage zurückzukommen. Nein, leider habe ich sie nicht gefunden. Ich habe im Gegenteil eine schmerzliche Nachricht für Ihren Mann. Seine Schwester Annette ist im Winter 1861 vermutlich im Kindbett gestorben. Vielleicht hat es sein Gutes, wenn nicht ich, sondern Sie es ihm beibringen. Zweifellos wissen Sie, wie sehr er seine Schwester geliebt hat. Aber es gibt in all dem Dunkel auch einen Lichtstreif. Soweit ich weiß, ist nämlich gut möglich, dass die Kinder seiner Schwester überlebt haben. Der erstgeborene Sohn ist aus der Waisenpflege in Deutschland inzwischen entlassen und dürfte schwerlich aufzutreiben sein, aber wenn Mr März es wünscht, werde ich alles tun, um das in England geborene zweite Kind zu finden und in seine Obhut zu bringen.«
In Sukies Kopf überschlugen sich die Gedanken. Nur mit Mühe fasste sie sich und setzte eine unbeteiligte Miene auf. »Wir lassen von uns hören«, sagte sie zu Wolfe. »Ich nehme an, mein Mann weiß, wie er Sie erreichen kann?«
Der Detektiv gab ihr eine gedruckte Karte. »Ich habe die Adresse gewechselt. Bis Ende der Woche bin ich noch in Portsmouth. Bitte sagen Sie Ihrem Mann, ich logiere im Hotel Solent und bin jederzeit für ihn zu sprechen.«
»Ich werde es ausrichten«, erwiderte Sukie, die nicht vorhatte, auch nur ein Wort auszurichten, und die Karte in der Tasche ihres Rocks zerdrückte. Sie hatte an ihr Kind zu denken. Schlimm genug, dass es seinen Vater mit einer Schimäre von einem Luxushotel und einer verzehrenden Hassliebe teilen musste. Für das Kind einer Fremden war nicht auch noch Platz – schon gar nicht, wenn Victor diesem fremden Kind womöglich die Liebe entgegenbrachte, die er seinem eigenen vorenthielt.
»Vielen Dank«, murmelte Wolfe, offenbar unschlüssig und an der Tür noch einmal zögernd.
»Ich bitte Sie, mich jetzt zu entschuldigen«, sagte Sukie, ganz Dame des Hauses. »Nicht nur Sie, auch ich habe Pflichten.«
Sobald die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, atmete sie tief und erlöst auf.
Die meisten Tage waren hart und dunkel. Zu Hyperions Verwunderung gab es jedoch noch immer Tage, die Hoffnung verliehen, obgleich er nicht wusste, worauf. Stets hingen diese Augenblicke der Hoffnung mit dem Spital zusammen. Daheim führten Mildred und er ihren Zermürbungskrieg, er, indem er schwieg und ihr auswich, und sie, indem sie ihn angriff, wo sie nur konnte. Sie hatte Sarah entlassen und statt ihrer eine Französin eingestellt. Als er sie anflehte, die altgediente Köchin zurückzuholen, fragte sie ihn: »Welches Recht hast du eigentlich, mir vorzuschreiben, wie ich mein Haus und mein Hotel führe?«
Die Frage stellte Hyperion sich selbst. Welches Recht hatte er auf irgendetwas? An manchen Tagen im Spital aber, wenn etwas gelang, was zuvor hundertmal misslungen war, wenn ein Mensch überlebte, der noch im Jahr zuvor gestorben wäre, trat er für einen Augenblick ins Freie, sog die salzige Luft in die Lungen und spürte, dass er ein Recht zu leben hatte. An manchen dieser Tage stellte er sich vor, wie er Daphne wiedersehen und was er zu ihr sagen würde. Was ich dir angetan habe, kann kein Mensch verzeihen. Aber ich habe mit dem Rest meines Lebens versucht dafür Abbitte zu leisten. Ich habe dein Leben und meines zerstört, aber ich habe danach nichts mehr gewollt, als Leben zu retten.
Einer jener Tage, der hellste von allen, war der erste Tag des Mai. Am Morgen hielt er vor Studenten eine Vorlesung über die Theorie eines deutschen Arztes namens Virchow. Dieser vertrat die Ansicht, Krankheiten würden durch Störungen in den Körperzellen
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