Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
Vom Netzwerk:
Dunkelheit war schon hereingebrochen, als er mit der schlafenden Esther im Phaeton nach Mount Othrys fuhr. Das Mädchen Lydia war leichtfüßig nach Hause zu seiner Mutter gelaufen, und der Junge Robert war noch am Leben, und sein Fieber sank. War dieser Tag nicht zu reich, um wahr zu sein, konnte ein solcher Tag wirklich ihm gehören? Im Licht der Gaslaternen sah er einen Mann die Straße hinuntergehen, den er kannte. Selbst von hinten war seine Statur nicht zu verkennen. Es war Victor März.
    Wie ein Schlag traf ihn die Erinnerung an das, was er dem Mann getan hatte. Vielleicht lag es an dem Wiedersehen mit Lydia Burleigh, dass ihm so plötzlich das alles wieder einfiel. März hatte auch jemanden wiedersehen wollen. Seine Schwester, die tot war. Seine Schwester, die ein Kind geboren hatte. Dass März nach dem Kind nicht suchen konnte, war Hyperions Schuld. Weil er an nichts als seinen eigenen Schmerz hatte denken können, wussten diese beiden – Onkel und Nichte – voneinander nicht einmal, dass sie existierten. Ohne nachzudenken zog er die Zügel straff und sprang vom Bock, ehe das Pferd stand. »Mr März!«, rief er dem Hünen hinterher. »Auf einen Augenblick – ich muss Sie sprechen!«
    Der Deutsche blieb stehen und wandte den Kopf. Unschlüssig machte er einen halben Schritt weiter.
    »Es geht um Ihre Schwester«, sagte Hyperion.
    Victor März drehte sich um und kam ihm die Straße hinunter entgegen.

Kapitel 30
    Mai
    D ie Ufer des verschlammten Weihers hinter dem Clarence Pier waren begradigt und ordentlich befestigt worden. Als neueste Attraktion der Saison war daraus ein See entstanden, an dessen Ufer die Urlauber Tret- und Paddelboote mieten konnten. Jedes Jahr sah Mildred zu, wie Southsea sich für den Ansturm der Touristen rüstete, und ließ sich von der freudigen Erregung anstecken. Wie eine Schöne war die Stadt, die sich den Staub aus dem Haar strich und ein neues Kleid anlegte, um ihren Liebsten zu empfangen. Und dieser Liebste würde kommen. Er war kein unerreichbarer Stern, nach dem Mildred vergeblich langte, sondern die irdische, greifbare Wirklichkeit.
    Mount Othrys hatte bereits seit März Gäste, ältere Leute, die nicht zu baden wünschten, sondern die Beschaulichkeit der Vorsaison genossen. Dennoch ließ Mildred es sich nicht nehmen, das Haus für den Beginn der Saison herauszuputzen. Für alle Zimmer hatte sie neue leichte Decken bestellt, in die sich die Gäste hüllen konnten, wenn sie an kühlen Abenden auf ihren Balkonen sitzen und die würzige Brise vom Meer atmen wollten. Gegen die Decken konnte nicht einmal Nell etwas vorbringen. Sie waren von feinster Qualität, gefärbt im zartesten Rosé und dezent bestickt mit dem Emblem des Hotels, dem sterbenden Titanen vom Portal und dem geschwungenen Namenszug Mount Othrys.
    Heute würden die Decken geliefert werden, und damit war alles bereit für die Eröffnung der Saison, die sie morgen auf ihrem Frühlingsball feiern würde. Ihre Tanzfeste hatten in kürzester Zeit bereits Berühmtheit erlangt – man sprach davon, betrachtete sie als Höhepunkte der Urlaubswochen. Auch diesmal würde Mildred keine Mühe sparen, um den Abend für ihre Gäste unvergesslich zu machen.
    Es war ein sonniger Tag. So schön sah der Garten im gerade erwachten Licht aus, dass die Eile, die Mildred sonst antrieb, von ihr abfiel. Sie blieb stehen, um den Kindern zuzusehen. Die große Schiffschaukel bei den Magnolienbäumen hatte sie einem Schausteller auf dem Clarence Pier abgekauft. Sie war geschmückt mit tanzenden Seejungfrauen, und Nell durfte sie, wenn es ihr Spaß machte, vulgär schimpfen. In ihrer vulgären Pracht war sie trotzdem unwiderstehlich. Vielleicht lieben meine Gäste ja gerade das an Mount Othrys, dachte sie. Die Vollkommenheit, den Stil ohne Makel – und den kecken, eigenen Farbtupfer, den ich ihm aufsetze.
    Sie hatte die Schaukel für die Gäste angeschafft, aber die weißgekleideten Kinder in dem bunten Schiffsrumpf sahen so reizend aus, dass sie sie nicht ausschimpfen konnte. Esther hatte die kleine Phoebe fürsorglich auf die mittlere Bank gesetzt und stand daneben, um sie wenn nötig festzuhalten. Georgia, die für ihre vier Jahre unglaublich kräftig war, zog an dem Seil, das die Schaukel bewegte. Sooft Mildred über Esther auch in Wut geriet, sie war den Kleinen eine gute Schwester, das musste sie ihr lassen. Sie war überhaupt ein gutes Kind, begabt und fleißig, dazu so still und bescheiden, wie die Gesellschaft es von einem

Weitere Kostenlose Bücher