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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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richtig einschätzte, mochte allein die Geste genügen.
    Mildred wendete ihr Pferd. Ihr war eingefallen, woher sie das Geld für Victor nehmen konnte – und von dort würde sie auch Kapital bekommen, um die paar Tage zu überbrücken, bis die Building Society ihr Guthaben freigab. Sie unterhielten noch immer ein Konto beim Bankhaus Lloyd, und sie besaß eine Vollmacht dafür. Es war das Konto, auf das Hyperion Vernons Erbe eingezahlt hatte, um es als Mitgift für die Mädchen zu bewahren.
    Vernon hatte verfügt, dass das Geld nicht angerührt werden durfte, und Mildred und Hyperion hatten geschworen, sich daran zu halten. Aber im Grunde rührte sie das Geld ja nicht an. Sie lieh es sich nur aus, bis sie über ihr eigenes wieder verfügen konnte, und würde es umgehend zurückzahlen. Sie hatte keinen Grund, sich bei dem Gedanken unwohl zu fühlen. Es war das Geld ihrer Töchter, und Mildred war die Letzte, die ihre Töchter um etwas betrogen hätte.
    Die Abhebung gestaltete sich komplizierter als erwartet. Der Angestellte gebärdete sich, als wäre das Geld sein Eigentum, und bat sogar den Direktor der Bank herbei, weil er nicht wagte, ihr die Summe auszuzahlen. Vor Anspannung entfuhr Mildred ein Fluch. Der Bankdirektor hob die Brauen und blätterte erneut die Papiere durch. Schließlich fragte er, ob es möglich sei, Mr Weaver in der Angelegenheit zu sprechen. Mit Mildreds Beherrschung war es vorbei. Blind vor Zorn schrie sie dem Mann ins Gesicht, was sie von ihm hielt. Nach ihrem Ausbruch herrschte in der Halle ein Schweigen, in dem jeder Atemzug zu hören war. Sie suchte nach Worten, um sich zu entschuldigen, als der Direktor ein Dokument heranzog und es mit einem schnellen Schriftzug unterschrieb. »Folgen Sie mir«, sagte er knapp und ging in den Tresorraum, um ihr das Geld vorzuzählen.
    Schwer atmend verließ Mildred die Bank. Um zu sich zu kommen, beschloss sie, über den Umweg am Meer entlang zurückzureiten. Für den Lieferanten kam sie ohnehin zu spät, und so aufgelöst, wie sie war, würde sie zu den Vorbereitungen für den Frühlingsball nicht zu gebrauchen sein. Seit der Dezembernacht konnte sie die Nähe des Meeres nicht mehr genießen. Sie ritt auch nicht nahe heran, sondern blieb hinter der Esplanade, und doch verschaffte es ihr noch immer das Gefühl, einen Freund zu besitzen, eine Kraftquelle, auf die sie sich verlassen konnte.
    An einem klaren Tag wie heute zeichneten sich die Landmassen der Isle of Wight scharf gegen den blauen Himmel ab. Daran vorbei glitt ein Schiff mit schwarzem Rumpf, das trotz des Dampfbetriebs seine vollen weißen Segel hisste. Mildred wusste, was dieses Schiff transportierte – Emigranten, die seit neuestem nicht mehr nach Southampton reisen mussten, sondern sich in Portsmouth nach Australien, Kanada oder Südamerika einschiffen konnten. Wären wir heute, nicht vor neun Jahren, angekommen, hätten wir dann unseren Traum verwirklicht? Einen Augenblick lang war die Vorstellung, auf dem schnell entgleitenden Schiff mit Daphne nach Australien zu segeln, so verlockend, dass ihr schwindlig wurde. Dann aber rief die Wirklichkeit sie zurück, sie wandte sich ab und trieb das Pferd in Trab. Ihr Leben war diese Stadt. Und Daphne war nicht mehr da.

    Es dauerte mehrere Wochen, bis Mildred begriff, dass sie sich geirrt hatte und dass das, was ihr geschah, jeden Alptraum übertraf. Die Portsea Building Society war zahlungsunfähig, das Geld ihrer Anleger verloren. Um zumindest die nötigsten Kosten zu decken, war Mildred gezwungen, noch einmal eine erhebliche Summe von dem Konto bei Lloyds abzuheben und von der Mitgift ihrer Töchter ihre Gäste zu verpflegen. Ich zahle es zurück, beschwor sie sich, sooft ihr Gewissen sie nicht schlafen ließ. Ehe die Mädchen es brauchen, zahle ich jeden Penny zurück.
    Es gab nichts, an dem sie sparen konnte. In einem Luxushotel durfte man nicht sparen, sondern musste den Gästen das Gefühl geben, dass alles in verschwenderischem Überfluss vorhanden war. Das Schlimmste, was der Besitzer eines Luxushotels tun konnte, war, zu zeigen, dass er Sorgen hatte. Jeder Tag musste in Heiterkeit und perfekter Harmonie verlaufen, denn die Welt des Urlaubs war eine Märchenwelt abseits der Wirklichkeit, und die Gäste bezahlten dafür, in dieser Welt ungestört zu bleiben. Mildred entwickelte in dieser Kunst der Verstellung wahre Meisterschaft. Sie erntete zahllose Komplimente dafür. »Bei Ihnen spürt man, dass Sie dieses Hotel mit Herz und Freude

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