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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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mehr als eine Randnotiz in der Geschichte eines großen Hotels.
    Das Leben war hart und tückisch, aber es ließ denen, die stark genug waren, eine Chance. Einen Augenblick lang erlaubte Mildred sich innezuhalten und sich verstohlen auf die Schulter zu klopfen.

Kapitel 31
    Herbst
    E r hatte sich verändert. Seit er wusste, dass dieses Kind existierte, war er wie verwandelt. Als hätte man einer Maschine, die lediglich funktionierte, Leben eingehaucht. Seine Augen glänzten, und selbst die Farbe seiner Haut hatte einen gesunden Ton angenommen, der ihn in Sukies Augen noch begehrenswerter machte. Zu Saisonbeginn hatte er ein leeres Lagergebäude gekauft, das er seiner Billigpension angliedern wollte. »Wenn sich hier kein Luxusflügel angliedern lässt, schlage ich eben aus meinem Geschäft, was herauszuschlagen ist, und irgendwann verscherbele ich den Plunder und kaufe mir das schönste Grandhotel von Southsea.«
    Dass er Mount Othrys damit meinte, wusste Sukie, auch ohne dass er den Namen aussprach.
    Jetzt redete er anders. »Ist es nicht gleichgültig, mit welcher Art von Hotel ich mein Geld mache?«, fragte er Sukie. »Wichtig ist nur, dass ich Geld genug habe, um Hedwig zu mir zu nehmen. Sie prüfen derzeit noch meine Papiere, und wenn sie feststellen, dass bei mir alles in Ordnung ist, kann sie vor Weihnachten hier sein. Sie hatte ein so furchtbares Leben bisher – sie soll von jetzt an eine schöne Zukunft haben. Alles, was ich für Annette nicht mehr tun kann, will ich jetzt für Hedwig tun.«
    Hedwig. So hieß sie. Ein achtjähriges Kind aus der Waisenpflege des Arbeitshauses, das zweifellos rachitisch, verdreckt und gänzlich ohne Erziehung war. Victor ging sie besuchen. Ließ seine Arbeit stehen, um mit Hedwig einer Messe für Waisen beizuwohnen und neben dem Kinderstimmchen »Herr, groß ist Deine Treue« zu schmettern. Derselbe Victor, der seinen wohlerzogenen Sohn, um den so mancher Mann ihn beneidet hätte, behandelte, als wäre er Luft. Hörte man je, wie er den Namen Charles nannte? Hedwig, Hedwig, Hedwig ging es stattdessen, und wenn auf Sukies Drängen überhaupt von ihrem Sohn die Rede war, so hieß es »der Junge« oder »dein Kleiner«.
    Die Gewalt, mit der sie ein achtjähriges Kind zu hassen vermochte, erschreckte Sukie. Aber so war es nun einmal. Sie hasste das Balg mit dem unaussprechlichen Namen Hedwig so sehr, wie sie Mildred Weaver hasste. Schimären waren sie beide. Victors Schimären, die mit seiner Wirklichkeit nichts zu tun hatten. Und dann wurde das Mädchen Hedwig Wirklichkeit. Drang eines Abends Ende Oktober einfach in ihrer aller Leben ein und ließ sich nicht mehr daraus entfernen.
    Wie jetzt jeden Sonntag war Victor zur Waisenfürsorge gefahren, um das Kind zu besuchen, wie jeden Sonntag trug er seinen besten Anzug und war frisch rasiert, als führe er zu einer Liebsten. Sukie kochte Charles, der keinen Tee mochte, heiße Schokolade und bereitete ihm Rührei und geröstete, gebutterte Brotscheiben zu. Das Wetter war scheußlich, schwarz und nass, und das hohe Feuer wie der Duft der Schokolade erfüllten den Raum mit Heimeligkeit. Warum Victor nicht wünschte, diese Geborgenheit mit ihr und ihrem Sohn zu teilen, würde Sukie ein Rätsel bleiben.
    Sie hörte die eisernen Räder seines Wagens auf dem Holperpflaster, hörte seinen Schlüssel im Schloss und lauschte auf seine Schritte im Gang. Sie musste lange warten. Offenbar verbrachte er einige Zeit damit, sich seines regennassen Mantels zu entledigen. Seine Stimme hörte sie. Mit wem sprach er? War das Hausmädchen aus der Pension herübergekommen, um ihn zu empfangen?
    Kurz darauf stand er in der Zimmertür, trug den triefenden Mantel noch über den Schultern und hielt die Person, mit der er gesprochen hatte, vor seinen Leib, seine Hände auf ihren Schultern.
    Die Person war ein Mädchen im grauen Kleid. Viel zu klein und zu mager für acht Jahre, im Gesicht aschfahl und mit Augen wie Wagenräder. Nicht schmutzig, vielleicht nicht einmal rachitisch und dennoch schlimmer, als Sukie es sich vorgestellt hatte. Unter der Haube lugte kein Haar hervor, und das Kind tat den Mund nicht auf, als könnte es nicht sprechen. Victor hingegen sah aus wie das blühende Leben, die Wangen gerötet, die Augen leuchtend vor Glück. »Das ist Hedwig. Sie bleibt jetzt bei uns«, sagte er. Dann hob er den Kopf, ohne die Hände von Hedwigs Schultern zu lösen, und rief: »Charles!«
    Es war das erste Mal, dass Sukie hörte, wie er ihren Sohn beim

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