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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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Schlimmste, das man ihr antun konnte? Es war nicht das Schlimmste, sie wusste es. Bilder der Mörderin Manning, die man in schwarzem Satin gehängt hatte, waren durch sämtliche Zeitungen gegangen und hatten sich Mildred ins Gedächtnis geprägt. Sie hatte keine Wahl. Sie musste zahlen. Auf schwachen Beinen trat sie vor ihren Sekretär, um das Geld zu zählen, das sie dort für die Bezahlung der Decken aufbewahrte.
    Es genügte nicht. Sie musste den Betrag von ihrem Konto abheben, und außerdem musste sie sich beeilen, damit sie zurück war, ehe der Lieferant mit den Decken kam. Sie sagte Priscilla Bescheid, sie habe eine dringende Besorgung zu machen, und ließ ihrem Pferd den Herrensattel auflegen. Darum, was die ewigen Naserümpfer dachten, konnte sie sich heute nicht kümmern.
    Die seltsamen Hochräder waren offenbar der letzte Schrei. Gefährlich schwankend schaukelten sie durch die Straßen, so dass Mildred Mühe hatte, den Wallach beizeiten aus dem Weg zu lenken. Ebenso lästig waren die Scharen von Zeitungsjungen, die an jeder Ecke herumlungerten und Extrablätter der Portsmouth Times ausriefen. Was war der Provinzzeitung ein Extrablatt wert? Wurden schon wieder Regimenter erwartet, die an irgendeinem Ende der Welt eine Landzunge für die Krone Britanniens erobert hatten? Mildred lenkte ihr Pferd in knappster Biegung um einen der Jungen, hörte, wie sein Ständer umstürzte, und erntete einen deftigen Fluch. Einerlei! Sie konnte nur hoffen, dass sie das Gebäude der Building Society erreichte, ohne jemanden zu treffen, den sie kannte.
    Den Tumult sah sie, sobald sie vor der Waverley Road um die Häuserecke bog. Vor dem hohen Backsteinbau, in dem ihr Geld verwahrt lag, standen zwei Polizisten mit Knüppeln und hielten eine wütende Menschenmenge davon ab, das Portal zu stürmen. Die Versammelten – vornehmlich Männer – brüllten und drohten mit erhobenen Fäusten, aber im Näherreiten erkannte Mildred, dass weitere Polizisten bereitstanden, um einzugreifen, falls jemand dem Gebäude zu nahe kam. Sobald sie vom Pferd sprang, trat einer der Uniformierten auf sie zu. »Aufsteigen und weiterreiten«, befahl er. »Hier können Sie sich nicht aufhalten.«
    »Was erlauben Sie sich?«, bellte Mildred zurück. »Ich bin nicht hier, um mich aufzuhalten, sondern um Geld abzuheben, das ich mit Fug und Recht mein Eigen nenne.«
    »Ob mit Fug und Recht oder nicht, Lady – Geld gibt’s hier keins mehr«, brummte der Polizist ungerührt.
    »Gehen Sie mir aus dem Weg«, fuhr Mildred ihn an und wollte den Wallach weiterführen. »Was ich mit meinem Geld tue, geht Sie einen Dreck an!«
    Der Mann hob den Schlagstock, dass das Pferd zurückscheute. »Leben Sie hinter dem Mond?«, fragte er Mildred. »Lesen Sie keine Zeitung?«
    Einer der Männer, die versuchten die Stufen des Gebäudes zu erstürmen, drehte sich nach ihr um. Es war ein zierlicher Mann in abgetragenem Anzug, vermutlich ein Kleinhändler, der sich mit Müh und Not ein schmales Polster ersparte. »Wissen Sie es nicht, Madam?«, fragte er Mildred mit bebender Stimme. »Sie nehmen uns unser Geld weg, sie haben uns das Blaue vom Himmel versprochen, und jetzt machen sie Bettler aus uns!«
    »Ruhe geben«, knurrte der Polizist und drohte mit dem Schlagstock. »Müsst ihr eben nicht auf jeden Salm, den man euch einschwatzt, reinfallen. Hier rumzustehen und zu greinen hilft jetzt auch nicht mehr.«
    Er wollte den Mann zurückdrängen, aber Mildred packte ihn am Ärmel. »Augenblick!«, rief sie. »Ich habe das Geld meines Unternehmens auf dieser Bank. Ich verlange auf der Stelle zu erfahren, was hier los ist.«
    »Was hier los ist, Lady? Das hat Ihnen Ihr Leidensgenosse doch gesagt. Euer Geld ist futsch. Die Hohlköpfe, die Bankiers spielen wollten, haben’s verbraten und vergeigt.«
    Mildred hatte das Gefühl zu versteinern, Zoll um Zoll, Glied um Glied. Wie eine Puppe, die auf einer Spieluhr befestigt war, drehte sie den versteinerten Körper um und sah nach dem Zeitungsjungen, der an der Häuserecke stand und seine Ware anpries. »Extrablatt!«, brüllte er, »Portsea Building Society zusammengebrochen, Anleger stehen vor dem Nichts!«
    Auf dem Ständer, den sie vorhin umgestoßen hatte, stand in pechschwarzen Lettern dasselbe: »Portsea Building Society muss Konkurs erklären.« Als Letztes versteinerte ihr Atem. Dass ihr die Zügel aus der Hand glitten, bemerkte sie noch, dann stürzte sie hintenüber, in die Arme des Polizisten. Zum ersten Mal in ihrem Leben

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