Die Mondrose
schmeckt, dass Hector sich darüber die Krätze an den Hals ärgert.«
Gelegentlich wunderte es Esther, dass Nell und Mildred einander so spinnefeind waren. So sehr, wie ihre Gedanken sich glichen, hätten sie Busenfreundinnen sein müssen.
»Ich will nicht, dass der Kerl dir den Charakter verdirbt«, sagte Nell. »Hättest du deine Mutter bei dir, so könnte sie auf dich achten und dir notfalls den Kopf zurechtsetzen. Aber du hast niemanden.«
»Ich habe Mildred«, sagte Esther, weil ihr Gerechtigkeitssinn es so wollte.
Wie nicht anders zu erwarten, lachte Nell krächzend auf. »Das nenne ich den Teufel mit dem Beelzebub austreiben. Mildred Adams lassen wir bei dieser Angelegenheit besser aus dem Spiel, oder ich vergesse mich.«
Esther sagte nichts mehr. Ihre Urgroßmutter wies auf die aus Walnussholz geschnitzte Anrichte. »Nimm dir den Umschlag dort. Was darin steckt, ist für dich.«
Zögernd stand Esther auf und ging hinüber. Der Umschlag war bis zum Platzen gefüllt. Sie wagte nicht, ihn anzufassen.
»Nun nimm schon. Trotz der himmelschreienden Maßnahmen, denen Mildred diesen Haushalt unterzogen hat, ist es ihr nicht gelungen, sich mein gesamtes Witwenerbe unter den Nagel zu reißen. Der Rest war ohnehin für dich bestimmt, und da du von deinen haarsträubenden Plänen nicht abzubringen bist, ist es mir lieber, du nimmst das Geld und suchst jetzt gleich das Weite. Zumindest kann ich dann sicher sein, dass du nicht Hector, Horatio oder wie das Pack sonst heißt in die Fänge gerätst.«
Esther streckte die Hand nach dem Umschlag aus, zuckte aber zurück. »Du meinst, du willst mir dein Geld schenken, damit ich zum Studium nach Kanada gehen kann?«
»Habe ich das nicht gesagt? Soweit ich mich erinnere, neige ich nicht dazu, mich unklar auszudrücken.«
Esther musste sich beherrschen, um nicht laut herauszulachen. Selbst wenn der Umschlag mit kleinsten Noten gefüllt war, würde der Inhalt genügen, um sich mindestens ein Jahr lang über Wasser zu halten, und das war alles, was sie wollte. Was danach kam, würde sich finden, so weit vertraute sie ihrem Glück und ihren Fähigkeiten. Sie würde nach Kanada gehen. Nicht in ein oder zwei Jahren, sondern jetzt, sobald der Winter vorüber war. Sie musste es jemandem sagen, oder ihr Herzschlag würde ihr die Rippen sprengen. Dann aber meldete sich ihr Gewissen. »Sollten wir es nicht teilen?«, fragte sie hastig. »Ich meine, es ist doch nicht gerecht, dass ich es allein bekomme – ein Teil davon steht Georgia, Phoebe und Chastity zu.«
»Wem mein Geld zusteht, bestimme ich«, bellte Nell. »Zu meiner Zeit hat sich ein junges Ding übrigens bedankt, wenn es von seiner alten Urgroßmutter ein Geschenk bekam.«
»Danke«, murmelte Esther und senkte den Blick, derweil ihr vor Freude Hitze in die Wangen stieg.
»Und jetzt ab mit dir, bevor noch der gesamte Betrieb dieses Spitals zum Teufel geht, weil Esther Weaver ihm fehlt.«
»Du bist die Beste, Urgroßmutter«, rief Esther, nahm den Umschlag und wirbelte herum. »Die Allerbeste.«
»Das ist stark übertrieben, doch dein Kinderglaube sei dir ungenommen«, murmelte Nell und verzog ihren alten Mund zu einem schwachen Grinsen.
Im Winter fuhr Esther mit dem Pferdebus zur Arbeit, aber heute rannte sie trotz des Schneetreibens den ganzen Weg. Sie hätte unmöglich still im Bus sitzen können. Sie musste einen Menschen sprechen, und Will Ackroyd war der Richtige dazu. Er wechselte gerade den Verband eines Metallarbeiters, der sich bei einem Arbeitsunfall mehrere Knochenbrüche zugezogen hatte, und wies Esther an zu warten. Bei weiblichen Patienten ließ er sie seit langem assistieren, damit sie übte, nach der Lister’schen Methode desinfizierende Binden anzulegen, doch Männer waren für sie tabu. Sie half den Schwestern beim Reinigen des Chirurgenwerkzeugs, bis Will kam, um sie zur Untersuchung eines magenkranken Mädchens zu holen.
»Sie hat den Blähbauch, vom Hunger«, klagte die Mutter des noch nicht vierzehnjährigen Mädchens. »Sie wird sterben.«
Ackroyd und Esther tauschten einen Blick. Sie hatten beide mit bloßem Auge gesehen, was die Untersuchung bestätigte. Das Mädchen würde nicht sterben und hatte nicht den aufgeblähten Leib, den man bei unterernährten Kindern häufig sah. Sie würde ein Kind zur Welt bringen, die Geburt war bereits im Gange. Hatte sich jemand an dem Mädchen vergangen, hatte es sich hingegeben, hatte gar ihre Familie sie für ein bisschen Brot und Gin verkauft? All
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