Die Mondrose
Georgia ihr durchs Haar. »Warum weinst du denn, Grasmücke? Du hast doch uns, du musst nicht ständig weinen.«
Chastity wimmerte weiter.
»Und warum gibst du deiner dicken Schwester keine Antwort?«, fragte Georgia.
Ohne mit dem Wimmern aufzuhören, hob Chastity ihr verweintes Gesicht. »Ich weiß nicht«, presste sie mit winzigem Stimmchen heraus. »Ich weiß doch nie was, und wenn ich doch was weiß, ist es falsch.«
Über den Kopf der Kleinen hinweg warf Georgia Esther einen komisch verzweifelten Blick zu. Esther zog Phoebe, die auch wieder weinte, näher zu sich und begann leise zu singen:
»Lavendel ist grün, dilly dilly,
Lavendel ist blau.
Wenn du mich liebst, dilly dilly,
Liebe ich dich auch.«
Am nächsten Morgen besuchte Esther, noch ehe sie zur Arbeit ins Spital fuhr, ihre Urgroßmutter. Die alte Frau bewohnte das letzte Zimmer auf dem Gang, um, wie sie sagte, von Mildred so weit wie möglich getrennt zu sein. Die Urgroßmutter konnte nicht mehr laufen, und eine Schwester aus dem Spital kam täglich zu ihrer Pflege, aber ihr Geist war scharf wie eine Speerspitze, und sie bestand darauf, am frühen Morgen besucht zu werden. Das, was man gleich besorgen konnte, schob man nicht auf, lehrte sie, schon gar nicht, wenn es um eine Frau ihres Alters ging. Urgroßmutter Nell war geboren worden, lange bevor Königin Victoria den Thron bestiegen hatte, ja sie hatte sage und schreibe die Regierung von vier Königen durchlebt, und in ihrer Jugend hatte es weder Gaslicht noch Eisenbahnen, weder Fahrräder noch Briefmarken oder Fotoapparate gegeben.
Vor allem keine Lister’sche Desinfektion und keine Anästhesie, dachte Esther. Chirurgen hatten innerhalb von Sekunden operieren müssen, weil ihnen sonst die Patienten an den Schmerzen starben, und der größte Teil der Überlebenden erlag später dem Fieber durch verschmutzte Wunden. Von sechs operierten Patienten blieb nur einer am Leben, während heute nur noch einer zu Tode kam. Noch immer einer zu viel, befand Esther und freute sich einmal mehr auf ihre Zukunft.
All diese Veränderungen hatte Urgroßmutter Nell, die älter als ein Jahrhundert war, miterlebt, und einmal hatte sie Esther gesagt, sie erkenne die Welt, in der sie geboren worden war, nicht wieder. In einer Welt, in der Frauen Ärztinnen wurden, wolle sie jedoch nicht länger leben. Seither hatte Esther mit ihr von ihren Plänen nicht mehr gesprochen. Sie mochte die alte Dame, die sich, so kühl sie sich gab, um ihr Wohlergehen immer gesorgt hatte, und wollte sie nicht verärgern. An diesem Morgen aber fing Urgroßmutter Nell von selbst mit diesem Thema an.
Wie immer tadellos gekleidet, saß sie in ihrem Lehnstuhl beim Kamin. Sie brauchte Stunden, um sich ohne die Pflegerin zurechtzumachen, aber sie hätte nie einen Gast empfangen, ohne sich zu präsentieren wie aus dem Ei gepellt.
»Wie ich sehe, bist du wieder einmal in Eile«, sagte sie. »Aber heute wirst du eine Unze deiner kostbaren Zeit erübrigen müssen. Es wird schon niemand dem Totengräber auf die Schaufel springen, nur weil sich neben dem Operateur kein naseweises Mädchen herumdrückt.«
Esther musste lachen, obwohl die Herabsetzung sie ärgerte. Will Ackroyd wurde nicht müde, ihren Fleiß und ihr Talent zu loben, doch in ihrer eigenen Familie galt ihre Begabung nichts. Nell riss boshafte Witze darüber, Mildred erwähnte das Thema höchstens naserümpfend, von den Schwestern interessierte es keine, und ihr Vater lebte in seiner eigenen Welt, zu der er Esther, so sehnlichst sie es sich stets gewünscht hatte, keinen Zutritt gewährte.
»Nun setz dich schon hin.«
Esther setzte sich der Urgroßmutter gegenüber auf den Schemel. Die Alte musterte sie. Ihre Augen waren scharf wie ihr Verstand. »Du warst auf der Hochzeit von Horatio Weaver, habe ich mir sagen lassen«, bemerkte sie.
»Von deinem Urenkel.«
»Halt den Schnabel. Wer mein Urenkel ist, bestimme ich, und ich erinnere mich, dir das nicht zum ersten Mal zu sagen.«
»Schon gut. Ich entschuldige mich.« Dass Nell Horatio und Nora so wenig als Urenkel anerkannte wie Georgia, Phoebe und Chastity, war lange ein Streitpunkt zwischen ihnen gewesen, doch inzwischen hatte Esther es aufgegeben.
»Ich werde nicht lange um den heißen Brei herumreden und mir dabei ansehen, wie du vor Ungeduld mit den Füßen scharrst«, fuhr ihre Urgroßmutter fort. »Es schmeckt mir nicht, dass du dich mit Hectors Apfel, der nicht weit vom Stamm fällt, abgibst, auch wenn es mir durchaus
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