Die Mondrose
sortierte sie und schichtete sie wieder hinein. Morgen früh würde sie die letzte Rate für die Passage ins Büro der Schifffahrtsgesellschaft bringen und dabei die Abholung des Gepäcks bestellen. Ihren Reisemantel hängte sie vor den Schrank und den Pullover von Horatio, der ihr auf der Überfahrt nützlich sein würde, daneben. Sechs Wochen auf einem Schiff – es war kaum vorstellbar. Sie nahm ein wollenes Tuch aus dem Koffer und faltete es neu.
»Du kannst das auspacken, Esther.«
Sie fuhr herum und sah Mildred, die sich gegen den Türrahmen lehnte. Ihr Gesicht war vor Erschöpfung grau.
»Ich packe nichts aus«, sagte Esther so fest wie möglich. »Ich fahre am Montag nach Kanada. Es ist nicht schlimm, dass du mein Geld genommen hast, um Phoebes Verlobten auszulösen. Du hattest ja keine Wahl, und ich brauche es nicht. Horatio und Lydia haben mir das Geld für die Überfahrt und die erste Zeit geliehen.«
Mildred sagte lange nichts. Dann: »Esther?« Verrückterweise fiel Esther nicht ein, wann Mildred sie je zuvor beim Namen genannt hatte. »Ich habe noch mehr Geld genommen. Alles Geld.«
»Was meinst du damit – alles Geld?«
»Geld, das für eure Mitgift angelegt war. Von einem Freund deines Vaters. Ich habe alles genommen und damit das Patent für Redknapp bezahlt. Was hätte ich sonst tun sollen? Der Mann hat ja sonst nichts, womit er Phoebe und das Kind ernähren könnte.«
»Ja, was hättest du sonst tun sollen?«, wiederholte Esther, ohne zu begreifen. Dass Mildred Geld genommen hatte, das für ihre Heirat bestimmt war, erschien ihr nur recht und billig. Schließlich war sie nicht Mildreds Tochter, und zudem hatte sie Geld von der Urgroßmutter bekommen, wenn sie es auch nicht mehr besaß. Wie aber stand es mit den Schwestern? »Was ist mit Georgia und Chastity?«, fragte sie leise. »Werden sie nichts brauchen, wenn sie heiraten wollen?«
»Georgia und Chastity können von Glück sagen, wenn es nur die Mitgift ist, die sie verlieren«, erwiderte Mildred in nicht zu deutendem Ton. »Wahrscheinlich ist allerdings, dass ihnen nicht einmal das Dach überm Kopf bleibt. Ich will dich etwas fragen. Erinnerst du dich an unsere Ausflüge zum Clarence Pier, damals, in den ersten Jahren, bevor der Teufel uns das Kreuz Chastity aufgebürdet hat? Einmal wollte ich nicht mit euch gehen, vielleicht, um euch dafür zu bestrafen, dass mein Leben ein solches Elend war. Du hast gesagt, ich soll Phoebe verschonen, du würdest alles aufgeben und im Leben nie wieder Karussell fahren, wenn ich nur Phoebe nicht traurig mache. Erinnerst du dich daran, Esther?«
Esther tat es. Sie glaubte Phoebes Kinderkörper in den Armen zu spüren und sich singen zu hören: Lavendel ist blau, dilly dilly, Lavendel ist grün. »Warum willst du das wissen?«, fragte sie.
»Weil du es wieder tun musst«, antwortete Mildred. »Alles aufgeben, bis an dein Lebensende nicht Karussell fahren, damit Phoebe nicht traurig ist. Ich werde auch das Geld, das dein Cousin dir gegeben hat, brauchen. Wie es aussieht, hat dieser Mensch, der mein Schwiegersohn wird, in jedem Bordell und jeder Kaschemme der Stadt Schulden gemacht, und wenn ich will, dass die Gläubiger dichthalten, werde ich sie auszahlen müssen. Aber das ist nicht alles. Ich brauche mehr Geld. Viel mehr. Und ich kann dir nicht einmal sagen, wofür. Wenn du mir nicht hilfst, muss ich Mount Othrys verkaufen, und wo wir alle dann bleiben, weiß ich nicht.«
»Aber Mount Othrys …«
Mildred schüttelte den Kopf. »Nein, Mount Othrys gehört nicht deinem Vater, der mich mit dem ganzen Irrsinn allein gelassen hat. Es gehört schon lange mir und sollte eines Tages meinen Kindern gehören. Jetzt aber wird einer es uns nehmen, einer, von dem ich nicht einmal den Namen kenne, und nicht nur Phoebe, sondern auch Georgia und das arme Unglückswurm werden am Ende sein. Es sei denn, du hilfst uns, Esther.«
»Aber wie soll ich euch denn helfen?«
Mildred wies auf die Rosen, die auf der Anrichte standen. »Andrew Ternan hat um deine Hand angehalten. Als durch Heirat verbundenes Hotel würde das Victoriana Mount Othrys unter die Arme greifen. Dein Vater wäre vermutlich dagegen, aber dein Vater ist ja nie hier, wenn seine Kinder ihn brauchen. Also habe ich mir erlaubt, seinen Antrag in deinem Namen anzunehmen.«
Einen Herzschlag lang glaubte Esther, der heisere, wie zerbrochene Schrei, der aufgellte, sei ihrer eigenen Kehle entsprungen. Erst als Mildred herumfuhr, begriff sie, dass er aus dem
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