Die Mondrose
Gang gekommen war, dass jemand direkt hinter der Tür gestanden und das Gespräch mit angehört haben musste. »Du«, entfuhr es Mildred. »Hältst du noch immer nicht still, schleichst dich noch immer durchs Dunkel und steckst in alles deine knochigen Finger? Hast du noch immer nicht genug zerstört?«
»Ich?«, hallte die Stimme der Urgroßmutter zurück. »Ich habe genug zerstört? Und das sagst du mir, Mildred Adams, die meine Familie zerstört hat und sich jetzt noch an meiner Urenkelin vergreift? Wenn der verfluchte Horatio ihr Geld gegeben hat, dann segne ihn der Herrgott – dann hat er genauso begriffen wie ich, dass sie von hier fortmuss, bevor du sie dir einverleibst, wie du dir Hyperion einverleibt hast, um alles, was er hätte sein können, zunichtezumachen.«
Ohne Besinnung sprang Esther auf und lief zur Tür. Im Gang stand die Urgroßmutter. Sie musste sich mit letzter Kraft aufgerappelt haben, schwankte vor und zurück wie ein Geist und streckte die Arme aus, um das Gleichgewicht zu halten.
»O nein«, schrie Mildred, »nicht ich habe zunichtegemacht, was Hyperion hätte sein können. Ich werde dir sagen, wer das getan hat. Du und deine heilige Amelia! Die eine mit ihrem Verzärteln und die andere mit ihrem Verachten. Ihr seid schuld, dass aus dem Mann, den ich geliebt habe, überhaupt nie ein Mann geworden ist, sondern ein verzagtes Jüngelchen mit grauem Haar!«
Esther sah, wie die Urgroßmutter noch stärker schwankte, wie sie die Arme wie Flügel ausbreitete, um Halt zu finden, wie sie den Mund aufriss, um gegen die Beschuldigung anzugehen, und wie sie vornüber auf den Boden fiel. Hätte Mildred die federleichte Greisin auffangen können, wenn sie gewollt hätte? Die Frage war müßig. Es hätte nichts genützt. An Mildred vorbei trat Esther in den Gang und kniete vor Nell Weaver, die mehr als ein Jahrhundert in sich trug, nieder. Routiniert tasteten ihre Finger nach Herz und Puls, um zu bestätigen, was sie ohnehin wusste. »Lass Vater aus dem Spital holen«, sagte sie. »Die Urgroßmutter ist tot.«
Teil IV
Chastity
»Let the birds sing, dilly dilly,
Let the lambs play.
We shall be safe, dilly dilly,
Out of harms way.«
Kapitel 42
Portsmouth, Ende September 1888
M it den Attacken der Angst lebte Hedwig March, solange sie denken konnte. Sie wusste, sie war kein kleines, der Waisenpflege entronnenes Mädchen mehr, sondern eine erwachsene Frau von sechsundzwanzig Jahren, die gelernt haben sollte, ihre inneren Dämonen zu beherrschen, aber das nützte ihr nichts. Sobald man sie allein ließ, sobald sie spürte, dass niemand da war, der sie vor übergroßen Händen, die sie packten und fortschleppten, beschützen konnte, brach sie in haltlose Panik aus.
Onkel Victor hatte versucht dafür zu sorgen, dass sie nie allein gelassen wurde. Seit Sukies Tod war dies jedoch zunehmend schwieriger geworden, denn beschützt fühlte Hedwig sich nur, wenn ein Mitglied ihrer Familie bei ihr war. Ließ man sie in der Obhut eines Bediensteten, überfiel die Angst sie schlimmer denn je. Sie wusste, dass der Onkel gern Einladungen für sie wahrgenommen hätte, dass er sich ein gesellschaftliches Leben für sie wünschte, doch alle Bemühungen waren fehlgeschlagen. Weite, unübersichtliche Räume, Gesellschaft von Fremden und Lärm verwandelten die kräftige Hedwig in ein hilfloses Kind, ein Häuflein Elend, das oft auf Tage hinaus nicht zu beruhigen war.
Dabei wollte sie sich so gern überwinden und Onkel Victor und Charles nicht so schrecklich zur Last fallen. Der arme Charles hatte ihretwegen nicht studieren dürfen. Hedwig wusste, wie sehr er darunter litt, auch wenn er kein Wort darüber sagte. Jurist hatte er werden wollen, für Gerechtigkeit kämpfen. Es gab keinen gerechteren Menschen als ihren Vetter Charles, und klug genug war er auch, er las, wann immer seine Zeit es erlaubte, und trug mit seinen einundzwanzig Jahren bereits eine Brille, denn er hatte sich beim Lesen ohne Licht die Augen verdorben.
Statt aber im fernen Cambridge auf die Universität zu gehen, hatte er in Portsmouth bleiben müssen, weil Onkel Victor drüben in Southsea ein neues Hotel eröffnet hatte und zwischen beiden hin- und herpendelte. Ohne Charles hätte er Hedwig mitnehmen müssen, aber häufige Ortswechsel bekamen Hedwig schlecht. Am wohlsten fühlte sie sich daheim, im Verwalterhaus, wo sie in ihrem Schaukelstuhl saß und Stickarbeiten anfertigte. Charles erledigte die gesamte Schreibarbeit für erst zwei und dann
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