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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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könnten sich ihrer bemächtigen, sie zu Boden schleudern und an Stricken in eine Anstalt zerren. Deshalb hatte der Onkel den Ärzten lediglich geschildert, woran Hedwig litt, und war jedes Mal mit einem anderen Mittel heimgekehrt, von denen manche gar nicht, andere ein wenig halfen. Das, was am besten half, stand unter der Treppe in der Küche. Es hieß Geoffrey’s Cordial und war ein Gemisch aus Sirup, Melasse und einem Wirkstoff namens Laudanum. Wenn sie einen ihrer Anfälle hatte, gab Onkel Victor ihr davon einen Löffel voll, und wenn sie Glück hatte, versetzte die dickliche Masse sie in Schlaf.
    Sie musste von dem Stuhl aufstehen, ehe die Welle sie erfasste, sie musste hinunter in die Küche laufen und die Flasche mit Geoffrey’s Cordial holen. Wenn der erste Löffel nicht half, könnte sie noch einen zweiten nehmen, der zweite half bestimmt, und sie würde wieder Charles’ Heldin sein. Keine Last, sondern eine vernünftige Person, auf die man sich verlassen konnte. Sie krallte die Hände um die Lehnen, sammelte all ihre Kraft, um sich hochzustemmen, aber so sehr sie auch stemmte, sie blieb stecken, wie an den Sitz des Stuhls geleimt.
    Der Stuhl begann zu schaukeln wie von unsichtbarer Hand bewegt. Hedwig versuchte ihn zum Halten zu zwingen, aber der Stuhl schwang noch weiter aus, so dass sie sich festhalten musste, um nicht hinausgeschleudert zu werden. Und dann kamen die Bilder. Zwischen ihren Schläfen rasten sie einher – Bilder von dem Mann mit dem Messer, der durch einen Londoner Bezirk namens Whitechapel strich, um Frauen die Kehle und den Bauch aufzuschlitzen. Jetzt aber war er nicht mehr in Whitechapel. Er war hier. In ihrem Haus. Unten in der Küche wartete er darauf, dass sie kam, um ihr Geoffrey’s Cordial zu holen. In dem Augenblick, in dem sie einen Fuß in die Küche setzte, würde sein Messer auf sie niedersausen. Hedwigs Hand fuhr an ihren Hals und fühlte Nässe, als flösse dort schon Blut.
    Sie durfte hier nicht bleiben. Sobald der Mann in der Küche begriff, dass sie nicht kam, würde er sich die Treppe hinaufschleichen und im Haus nach ihr suchen. Er würde in ihr Zimmer springen und mit seinen riesigen Händen ihren Stuhl zum Stehen bringen. Hedwig blickte auf und glaubte die Klinge zu sehen, von der schon Blut auf ihr Gesicht tropfte. Erstickt schrie sie auf. Sie musste fliehen. Nirgendwo im Haus, in keinem Winkel war sie vor dem Mann in Sicherheit.
    Die Anstrengung, mit der sie sich aus dem schwingenden Stuhl in die Höhe stemmte, überstieg ihre Kräfte. Hedwig wurde schwarz vor Augen, sie taumelte und stürzte, doch im nächsten Moment wuchs sie noch einmal über sich hinaus und rappelte sich auf. Jetzt nur laufen, fliehen, dem Haus entkommen. Während sie in rasender Angst durch den Gang jagte, hörte sie ihre Sohlen auf die Dielenbretter schlagen und dahinter die viel schwereren Sohlen des Mannes. Als ihre zitternden Finger es endlich schafften, die Riegel zurückzuschieben und die Tür aufzureißen, glaubte sie seine Hand auf ihrer Schulter zu spüren.
    Regen schlug ihr entgegen und graues Zwielicht, doch zumindest die krumme Gasse kam ihr vage vertraut vor. Sie rannte weiter. Irgendwo in ihrem Hinterkopf hämmerte das Wort Southampton. Nach Southampton war Charles gefahren, ihr Charles, der sie vor allem Bösen auf der Welt beschützte. Wenn sie es bis dorthin schaffte, durfte sie sich in seine Arme fallen lassen und bekäme ihr Geoffrey’s Cordial, damit sie schlafen konnte, tief und selig schlafen. Sie rannte bis ans Ende der Straße, aber dort tat sich auf einmal ein Platz auf, der zu einer Seite nicht einmal durch Häuser begrenzt war. Schreiend machte Hedwig kehrt, sah riesengroß den Mann mit dem Messer vor sich und schlug einen Haken, um in eine Seitenstraße zu entwischen.
    Sie musste zum Bahnhof. Nach Southampton fuhr man mit dem Zug, also würde auch sie in einen Zug steigen müssen. Bei der Vorstellung schwanden ihr vor Angst die Sinne, aber alles war besser, als dem Mann in die Hände zu fallen, als mit aufgeschlitztem Bauch auf dem Pflaster zu liegen, bis die Nacht kam und Polizisten ihr mit Scheinwerfern in das grausig entstellte Gesicht leuchteten.
    Hedwig würde nie wissen, wie sie schließlich zum Bahnhof gelangt war. In ihrer Erinnerung hatte sie Stunden gebraucht, in denen sie durch endlose Straßen rannte, vor offenen Plätzen zurückwich und im letzten Augenblick dem Messer des Mannes entkam. Als sie die gläsern überdachte Halle mit der Aufschrift

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