Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
Vom Netzwerk:
drei Hotels, konnte auf diese Weise ständig in ihrer Nähe sein, und wenn er hinüber zu den Gästen gerufen wurde, beeilte er sich, zu ihr zurückzukehren. Zweimal war es geschehen, dass er sich verspätet hatte, und wie zur Strafe hatte er eine völlig aufgelöste Hedwig vorgefunden, die schrie und sich die Arme zerkratzte.
    Ein drittes Mal aber war alles gutgegangen. Ein Gast war in seinem Zimmer bewusstlos geworden, und Charles hatte warten müssen, bis ein Arzt eintraf, doch diesmal war es Hedwig gelungen, sich zu beruhigen, sich zu versichern, dass Charles schließlich nur im Gebäude nebenan war und bei der geringsten Gefahr sofort zu ihr eilen würde. Als er zurückkam, dröhnte ihr zwar ihr Herzschlag in den Ohren, aber sie saß noch in ihrem Schaukelstuhl, hatte nicht geschrien und sich nichts angetan.
    Wenn sie ein wenig stolz auf sich war, so war das nichts gegen Charles. Ihr Vetter brach in wahre Lobeshymnen aus, als hätte sie eine Weltumsegelung gemeistert. »Hedwig, Hedwig, du bist ja ein richtiges Löwenherz!«, rief er aus. »Meine kleine Jeanne d’Arc bist du. Meine Heldin. Sag, Hedwig, da du doch jetzt so viel Mut hast und es so gutgeht mit dem Alleinsein – meinst du, wir könnten das nächste Woche noch einmal versuchen? Und die Woche darauf auch? Ohne dem Vater etwas davon zu sagen? Es wäre unser Geheimnis, Hedwig, und du würdest mir so eine große Freude damit machen. Es sind nämlich zwei Herren vom Zentralen Kriminalgericht in London in Southampton. Sie halten eine Reihe von Vorträgen an der Hartley Institution über Straffälligkeit und die soziale Frage. Verstehst du, dass ich da gern dabei wäre, Hedwig? Meinst du, wir beide zusammen könnten das auf die Beine stellen?«
    Bei der Vorstellung, einen ganzen Tag allein verbringen zu müssen, während Charles sich mit Dingen befasste, an die Hedwig nicht einmal denken mochte, wurde ihr übel. Wie aber konnte sie Charles einen derart bescheidenen Wunsch abschlagen? »Wollen wir es nicht mit Onkel Victor besprechen?«, wagte sie vorzuschlagen, verwarf die törichte Idee jedoch sofort. Was der Onkel tun würde, wenn er von Charles’ Plänen erfuhr, konnte sie sich lebhaft vorstellen – Charles bei den Schultern packen und auf ihn niederschreien, er habe kein Gefühl für Verantwortung, er kenne keine Dankbarkeit und wisse nicht, auf wessen Kosten er lebe. Wer Onkel Victor mit Hedwig und wer ihn danach mit Charles erlebte, musste glauben, in demselben Mann steckten zwei Persönlichkeiten wie in der grausigen Geschichte, die Charles ihr erzählt hatte, von dem guten Dr. Jeckyll, der bei Tag Menschen heilte, und dem satanischen Mr Hyde, der bei Nacht Morde beging.
    Auch in London beging jemand Morde. In den finsteren Gassen, in denen das Elend zu Hause war, schnitt eine Bestie, die sich Jack the Ripper nannte, Straßendirnen die Kehlen durch und zerfleischte sie. Hedwig wollte sich mit solchen Dingen nicht befassen, nicht die Zeitschriften aufheben, die Charles herumliegen ließ, aber sie tat es wie unter Zwang. Charles wiederum befasste sich damit, weil er etwas zu beweisen suchte: Wer aus menschenunwürdigen Verhältnissen stammte, war nicht in der Lage, sich menschenwürdig zu verhalten.
    Ich stamme aus menschenunwürdigen Verhältnissen, dachte Hedwig, aber ich schneide niemandes Kehle durch, ich will niemandem ein Leid tun, nur unauffällig vor mich hin leben, in meinem schönen Zimmer mit dem Schaukelstuhl und den dichten Vorhängen, hier, wo ich genug zu essen habe, hier, wo mich niemand anschreit, packt, schlägt, in die Kälte stößt, an den Haaren reißt. Charles hatte in Wahrheit keine Ahnung von menschenunwürdigen Verhältnissen, das hatten nur die, die sie erlebt hatten. Aber Charles war ein guter Mensch. »Wenn du nicht willst, lassen wir es bleiben«, sagte er. »So wichtig ist es nicht.«
    Hedwig riss sich zusammen. »Ich will es«, sagte sie. »Du fährst nach Southampton, und ich warte auf dich und sticke an meinem Schultertuch.«
    »Aber dir wird doch bange …«
    »Es wird schon gutgehen«, behauptete Hedwig und betete, das möge es tun.

    Es ging nicht gut. Keine Viertelstunde, nachdem Charles in heiterster Stimmung das Haus verlassen hatte, wurde Hedwig klar, dass die Welle der Angst, die sich bereits auf sie zubewegte, sie überrollen würde. Ein paar Möglichkeiten gab es, um sie aufzuhalten. Onkel Victor hatte im Lauf der Jahre zahlreiche Ärzte aufgesucht, stets allein, weil Hedwig Angst hatte, die Ärzte

Weitere Kostenlose Bücher