Die Mondrose
schickt uns in fünf Monaten nicht mehr als diesen dürren Brief – und dabei soll ich glauben, dass bei ihr alles zum Besten steht? Verzeih, dass ich jetzt dich damit belästige, aber wie es aussieht, bist du der Einzige, der sich dafür interessiert.«
»Deine Familie wird sich wohl interessieren«, wandte Horatio ein, aber Esther schüttelte den Kopf.
»Phoebe hat so viele eigene Probleme, dass man ihr nicht noch andere aufbürden darf, und Georgia sagt, die Tür von Mount Othrys stehe Chastity jederzeit offen, aber Reisende halte man besser nicht auf. Und bei Mildred habe ich den Eindruck, als wäre Chastity für sie gestorben, und als wäre sie darüber auch noch froh.«
»Habe ich dir eigentlich schon einmal gesagt, dass ich Mildred nie ausstehen konnte?«, fragte Lydia.
»Mehr als einmal.« Esther stöhnte. »Aber das nützt mir nichts.«
Sie spürte Horatios Blick auf sich, den ruhigen, klugen Blick eines Wissenschaftlers, der gewohnt ist, vor dem Sprechen zu denken. »Esther«, sagte er, »Phoebe, Georgia und Mildred sind nicht deine ganze Familie.«
»Nein, gewiss nicht, und ich weiß nicht, was ich ohne dich täte, aber …«
»Das meine ich nicht«, unterbrach er sie. »Hast du schon einmal versucht, mit deinem Vater über Chastity zu sprechen?«
»Nein«, gestand Esther ein. Sie hatte seit ihrer Hochzeit überhaupt nicht mehr versucht mit ihm zu sprechen, weil sie endgültig aufgehört hatte zu hoffen, er würde eines Tages aufstehen und sich schützend zwischen sie und Mildred stellen. Er hatte sein Ziel erreicht. In Milton war ein Spital für Infektionskrankheiten eröffnet worden. Dass aus seinen Kindern erwachsene Frauen geworden waren, die ein Leben zu meistern hatten, war ihm vermutlich entgangen. »Um ehrlich zu sein, frage ich mich, ob mein Vater weiß, dass er eine Tochter namens Chastity hat.«
»Das dürfte er mit den meisten Vätern dieses Landes gemein haben«, warf Lydia ein. »Und wird es ihnen nicht leichtgemacht, sich um die Bälger, die sie zeugen, nicht zu scheren? Ihre Lust leben sie gerne aus, aber mit dem dicken Bauch und dem ewig plärrenden Bündel dürfen Frauen allein fertig werden.«
»Ich mag deine Darstellung von Kindern nicht«, sagte Esther und wünschte im nächsten Augenblick, sie hätte geschwiegen.
»Ich auch nicht«, stimmte Horatio ihr zu. »Sie kommt mir vor, als beschriebe jemand das Sonnenlicht als schweißtreibend.«
Lydia schoss herum. »Sag mir nicht, dass du ein Kind willst, Horatio! Sag mir um alles in der Welt nicht das.«
»Ich habe nichts dergleichen gesagt«, erwiderte er ruhig.
»Aber gedacht hast du es! Glaubst du, ich weiß das nicht längst? Du hast das ganze Aufpassen und Berechnen satt und willst einfach deinen Spaß wie alle Männer. Und die Schulterklopfer der Kumpane, wenn der Stammhalter da ist, hättest du gern obendrein.«
Sag nein, beschwor Esther ihn stumm, sag nein, du willst nichts davon, und mach dem Thema ein Ende. Lydia muss sich heute an jemandem schadlos halten, und die Schläge, die sie austeilt, sind keine harmlosen Maulschellen.
Aber Horatio war niemals feige gewesen, unter der Grausamkeit seines Vaters so wenig wie jetzt. »Wenn ich den Gedanken an ein Kind schön finde, dann, weil ich die Frau, die es bekäme, über alle Maßen bewundere«, sagte er. »Und weil es mir gefiele, wenn etwas von ihr in der Welt bliebe, nachdem wir gegangen sind. Aber das ist Theorie. Dass in unserem Leben kein Platz für ein Kind ist, habe ich immer akzeptiert.«
Flüchtig hielt Lydia inne. Vielleicht hatte etwas in ihr noch ein Ohr für die Zärtlichkeit, mit der ihr Mann ihr seine Liebe erklärte. Vielleicht erinnerte sich noch etwas in ihr daran, dass hinter Horatios beherrschter Fassade ein verletzlicher, selbstzweiflerischer Mann steckte, dem unendlich viel daran lag, keinen Fehler zu begehen. Der Rest von ihr aber war dafür taub und blind und konnte nur mehr das Leid sehen, das Männer Frauen zufügten und das nach Rache schrie. »Vielleicht ist der Plan gar nicht übel«, meinte sie.
Ein Wahnwitz von Hoffnung glitt über sein Gesicht, doch sofort holte ihr beißender Ton ihn in die Wirklichkeit zurück. »Du willst keine Kinder«, sagte er. »Lass uns das jetzt vergessen, Lydia.«
»O nein!«, rief sie wie gefangen in Raserei. »Vielleicht wäre es ja das Zeichen zur Umkehr, das wir brauchen. Behaupten nicht diese Richter, Abtreibung sei ein Problem der niedrigsten Klassen mit ihrer niedrigsten Moral? Deshalb kratzt es doch
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