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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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vielleicht dies der Tag, an dem er zurückkam, um sich mit seinem Vater auszusöhnen? Sie erhob sich halb aus dem Sitz, blickte hinunter auf die Menge und entdeckte ein bekanntes Gesicht. Nicht das von Charles, sondern das von Horatio Weaver.
    Sie sprang auf und begann ihm zu winken, ehe sie sich dessen bewusst war. Sie musste auch etwas gerufen haben, denn er blieb stehen und blickte sich in der Menge um. Er war größer als die meisten, weil er den Rücken nicht krümmte – er sah aus wie einer, dem das Leben nicht die kleinste Spur von Furcht einflößte. Sein Anzug war schwarz wie an dem Tag, an dem er sie gerettet hatte. Sie erinnerte sich an die seidenen Revers, an denen ihr Gesicht gelegen hatte. »Mr Weaver!«, rief sie so laut, dass Köpfe sich drehten. Er durfte nicht weitergehen, ohne sie zu bemerken. Um keinen Preis durfte er ihr entwischen.
    Endlich sah er sie. Kniff die Augen gegen die Sonne zusammen, und dann zog ein Lächeln über sein Gesicht. Wie schon einmal bewunderte sie seine Fähigkeit, sich einen Weg durch die Menge zu bahnen, ohne die Ellbogen einzusetzen oder jemanden zu stoßen. Mit einem kleinen Jauchzen sprang Hedwig vom Wagen. Es machte ihr keine Angst mehr. Von den fremden, bedrohlichen Gesichtern nahm sie kein einziges wahr.
    »Miss March, wie nett, Sie zu sehen. Ich habe mich oft gefragt, wie es Ihnen geht.«
    Er stand so nah vor ihr, wie sie es sich in ihren Träumen ausgemalt hatte. So nah, dass sie seinen Duft wahrnahm und seine kräftigen Atemzüge hörte. Hedwig biss sich auf die Lippe. Sie musste rasch etwas sagen, ihm deutlich machen, dass sie keine Kranke, sondern schlicht eine junge Frau war, wie sie Männern gefiel. Sie musste sicherstellen, dass sie ihn nicht sofort wieder verlor, jetzt, da sie ihn endlich gefunden hatte. Konnte sie ihn einladen, mit zu ihr nach Hause zu kommen? Onkel Victor hatte seine Gäste gefunden und lud ihr Gepäck auf den Wagen. Auf den Sitzen würde kein Platz mehr für ihn sein. Durfte sie ihn bitten, ihnen zu folgen, verstieß es gegen die Sitte, wenn sie ihn begleitete?
    »Ich muss weiter«, sagte er mit einer Spur Verlegenheit. »Meine Frau erwartet mich. Sie hat heute Geburtstag. Es war schön, Sie zu treffen.«
    »Gehen Sie nicht weg!«, rief Hedwig und lief auf ihn zu. Sie hatte keine Angst mehr. Überhaupt keine Angst. Als er zurückwich, warf sie ihm die Arme um den Hals und verschränkte die Hände in seinem Nacken. »Bleiben Sie bei mir. Ich habe mich so nach Ihnen gesehnt.«

    Zu Beginn der Saison arbeitete Andrew oft bis spät in der Nacht. Esther hatte auf diese Zeit mit Ungeduld gewartet. Über das, was ihr das Herz schwer machte, wollte sie nicht sprechen, wenn Andrew jeden Augenblick hereinplatzen konnte.
    »Ich will nach Chastity suchen lassen.«
    Lydia, die gedankenverloren in den Garten starrte, schrak zusammen. »Chastity?«, murmelte sie. »Aber sie hat euch doch den Brief geschrieben.«
    »Ich pfeife auf den Brief«, sagte Esther. »Was steht denn schon darin? Es gehe ihr gut, und wir sollten nicht nach ihr suchen. Kein Wort darüber, wo sie ist, warum sie so plötzlich verschwunden ist und warum wir sie nicht einmal besuchen dürfen. Sie ist meine Schwester, Lydia. Ich kann diese Sache doch nicht einfach so auf sich beruhen lassen.«
    Fahrig griff Lydia nach einem Etui, dem sie eine Zigarette entnahm. Rauchen galt bei Frauen als Laster, dem höchstens Prostituierte frönten. Kürzlich war gar eine Frau für dreißig Tage ins Gefängnis geschickt worden, weil sie vor ihrer Tochter geraucht und damit deren Moral gefährdet hatte. Gerade deshalb war das Rauchen in Lydias Kreisen zur Mode geworden. Flammen der Freiheit nannten sie die glimmenden Stäbe, an denen Lydia saugte, als würden sie Hunger stillen. Sie war dürr, stellte Esther fest. Nichtsdestotrotz blieb Lydia die schönste Frau, die sie kannte, weil ihr die Leidenschaft, die ihr Leben bestimmte, ins Gesicht geschrieben stand.
    Sie saßen in ihrem Wintergarten, der beinahe so schön war wie der von Mount Othrys, in ihrem Haus aber der Familie vorbehalten war. Der Familie! Was für ein lächerlicher Ausdruck für nur mehr zwei Menschen! Esthers Schwiegervater war im ersten Jahr ihrer Ehe an seiner kranken Leber gestorben, und seither war das große Haus noch stiller geworden.
    Still war auch die rauchende Lydia. »Sagst du nichts?«, fragte Esther. »Ich hatte gehofft, du könntest mir raten.«
    »Raten?« Wieder schien Lydia tief aus Gedanken zu schrecken. »Bitte

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