Die Mondrose
ihn nicht wiedersehe, sprach für ihn. Er war verheiratet, und er war ein Mann von Anstand, einerlei, was Onkel Victor behauptete. »Ich mag den Mann nicht«, hatte der Onkel sie bestürmt, »er hat den übelsten Ruf, den man sich vorstellen kann.«
»Aber er verdient ihn nicht. Ist er vielleicht nicht vollendet höflich, sooft er zu uns kommt, behandelt er mich nicht mit höchstem Respekt? Und siehst du etwa nicht, wie gut er mir tut, wie er mir hilft, mich aus dem Käfig der Krankheit zu befreien?«
»Doch«, gab Onkel Victor zu, »das sehe ich. Der junge Mr Weaver, der dich besuchen kommt, ist voller Charme und Liebenswürdigkeit, aber ich habe ihn schon als Knaben gekannt. Er war schwererziehbar. Sein Vater stand kurz davor, ihn außer Haus zu geben, weil er sich nicht bändigen ließ.«
»Soll ich einem erwachsenen Mann ankreiden, dass er als Junge ein kleiner Rotzlümmel war?«
»Nein«, erwiderte Onkel Victor, »aber er hat eine nachtschwarze Seite. Ich habe Angst um dich, wenn er bei dir ist.«
Es war das erste Mal, dass Hedwig auf Onkel Victor zornig wurde. Wie konnte er so über Horatio sprechen? Nachtschwarz an ihm waren nur sein Haar und seine Brauen, was Hedwig so sehr gefiel, dass es ihr im Magen kribbelte. Sie wollte ihn unentwegt ansehen. Auch seine Augen waren beinahe schwarz – es war ein leuchtendes Schwarz, wie Hedwig es nie zuvor gesehen hatte. Wenn die Angst nach ihr greifen wollte, stellte sie sich sein Gesicht mit den leuchtenden Augen vor, und die Angst zog sich zurück. Irgendwann würde sie für immer fortbleiben.
Onkel Victor versuchte ihr die Treffen mit Horatio auszureden, doch zu ihrem Glück verbot er sie nicht. Er hatte ihr nie etwas verboten. »Wenn du es dir so sehr wünschst, Kleines, dann muss es eben sein«, war alles, was er dazu sagte, und letzten Endes bedrängte er Horatio selbst, bald wiederzukommen, weil seine Nichte in seiner Gegenwart aufblühte. Zudem konnte Onkel Victor Arbeit erledigen, wenn Horatio da war, denn Hedwig blieb liebend gern mit ihm allein.
Sie sprach mit ihm von Dingen, von denen sie geglaubt hatte, sie könne sie nie über die Lippen bekommen. Von ihrem Leben im Arbeitshaus, das kein Leben gewesen war, sondern ein Alptraum ohne Erwachen. Sie hatte nie den Mund dazu aufbekommen, weil Menschen Schlüsse über sie ziehen, Fragen stellen und unerträgliche Bemerkungen abgeben würden. Horatio aber zog keine Schlüsse, stellte keine Fragen und gab keine Bemerkungen ab, sondern hörte zu und verstand. Auf wundersame Weise schien er zu wissen, was sie meinte. Einmal, als sie zu stammeln und nach Luft zu schnappen begann, sagte er: »Sprechen Sie es nicht aus. Es ist, als stünde man nur aufrecht, solange es ungesagt bleibt, nicht wahr? Sobald es gesprochen wird, stürzt man um und erniedrigt sich noch einmal neu.«
Eines Abends hatte er seine Frau mitgebracht. Er meinte es gut, wollte dafür sorgen, dass sie mehr Gesellschaft bekam, aber ihr tat es nicht gut. Die schmale Frau mit dem dichten braunen Haar war ihre Feindin. Hedwig erlitt in ihrer Gegenwart einen Anfall und ließ sich nur mühsam beruhigen. Die Frau kam nicht wieder, und Horatio kam erst, nachdem Onkel Victor ihm auf Hedwigs Betreiben ein Billett sandte und ihn dringend darum bat.
Hedwig hätte gern Pläne geschmiedet, während sie hinter dem Empfangstisch auf Onkel Victor wartete. Pläne für die Zeit nach ihrer Genesung, wenn sie nicht mehr tatenlos Horatios Besuchen entgegenfiebern musste, sondern zu ihm gehen konnte, wann immer die Sehnsucht sie übermannte. Stets aber endete die Hochstimmung, mit der das Pläneschmieden begann, in einem Abgrund dumpfer Verzweiflung. Es war ja alles nicht möglich, die ganze Anstrengung, gesund zu werden, nützte nichts. Horatio war verheiratet. Er hatte sie mehrmals gebeten, ihm nicht mehr die Arme um den Hals zu werfen und ihre Wange nicht mehr an seine zu legen. Einmal befreite er sich mit aller Bestimmtheit und sagte: »Ich mag Sie gern, Hedwig, aber ich liebe meine Frau.«
Hedwig saß hinter dem Empfangstisch von Onkel Victors Pension in Southsea und wünschte der fremden Frau den Tod. Eine Horde von Thomas-Cook-Touristen strömte durch die Tür. Wer an solcher Billigreise im Zug oder im Pferdebus teilnehmen und ein paar Tage lang Meeresfrische genießen wollte, musste sich verpflichten, keinen Alkohol zu trinken, weshalb die Leute in Portsmouth nicht gern gesehen waren. Sie trugen zu wenig Geld in die Stadt. Dafür, dass jährlich immer mehr
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