Die Mondrose
bin ich davon abgekommen, nach Menschen zu suchen, die nicht gefunden werden wollen«, sagte er dann.
»Wir haben keinen Beweis dafür, dass Ihre Frau nicht gefunden werden wollte«, mahnte ihn Wolfe. »Wenn Sie mich fragen, konnte sie nicht gefunden werden, weil sie nicht mehr am Leben war. Aber das wissen Sie ja.«
In der Tat, das wusste er. Weniger genau wusste er, warum er sich auf die Suche nach Chastity eingelassen hatte und damit Erinnerungen aufwühlte, die einen erstaunlich frischen Schmerz auslösten. Zum einen, weil er Wolfe mochte und ihm nach allem, was der Detektiv für ihn getan hatte, gern einen Auftrag verschaffte, zum anderen, um Esther diesen einen Wunsch nicht abzuschlagen.
Es hatte ihm zugesetzt, Esther in dem großen Haus zu sehen wie einen verlorenen Gegenstand. Er hatte sie seit ihrer Hochzeit nie besucht und hatte sie nie gefragt, warum sie so plötzlich geheiratet hatte, statt nach Kanada zu gehen und Medizin zu studieren. Auf einmal war er sich sicher, eine Pflicht versäumt zu haben. Die junge Frau, die vor ihm in dem viel zu weitläufigen Wintergarten saß, sah Daphne so ähnlich, dass er erschrak. »Geht es dir gut?«, rutschte es ihm heraus.
Ein wenig bitter lachte sie auf. »Ist es nicht etwas spät für eine solche Frage? Es ginge mir besser, wenn ich wüsste, wo Chastity ist.«
Also hatte er sich dreingeschickt. Nein, hatte er erklärt, dass sein Bruder mit Chastitys Verschwinden zu tun habe, könne er sich nicht vorstellen, denn Hector halte ja seit Jahren mit ihnen nicht einmal Kontakt, doch immerhin kenne er jemanden, den man mit der Suche beauftragen könne. Mit Wolfe hatte er vereinbart, er solle ihm Nachricht ins Spital senden, wenn es etwas zu berichten gebe. Es war der letzte Tag im September, und Hyperion vernähte eine Brustamputation, als die Nachricht kam. Er traf Wolfe, wo sie sich immer trafen. Auf dem Tisch, hinter dem der Detektiv sich erhob, standen zwei Gläser Absinth. »Ich habe Ihre Tochter Chastity gefunden«, sagte er und streckte Hyperion die Hand hin.
An Chastity hatte Hyperion in der ganzen Angelegenheit bisher so gut wie gar nicht gedacht. Jetzt kam er an der Erkenntnis nicht vorbei: Ihm lag nichts daran, das Mädchen zu finden. Von seinen Töchtern, die alle Fremde für ihn waren, war ihm die jüngste die fremdeste. Zudem machte es ihn beklommen, über Chastity, die in einer Nacht blinder Trunkenheit entstanden war, nachzudenken. Er hatte sich geschworen, keine Kinder mehr in die Welt zu setzen und mit Mildred nicht mehr zu schlafen. Wie hatte er überhaupt damit fortfahren können, nachdem er Daphne dafür verloren hatte? In jenen Jahren, die in seiner Erinnerung beinahe ausgelöscht waren, hatte er nicht nur Daphne, sondern auch sich selbst verloren. Er war sich vorgekommen wie ein Tier mit stumpfen Sinnen, das nur aß und trank und manchmal in ohnmachtsgleichen Schlaf fiel.
In jener Nacht hatten er und Mildred sich in einen Rausch der Verzweiflung getrunken, und am Morgen hatten sie beide keine Erinnerung an die Zeugung Chastitys. Wenn er ehrlich war, hatte Hyperion an das Mädchen nie mit anderen Gefühlen gedacht als mit Scham. Er sah den Detektiv an und schämte sich von neuem. »Geht es ihr gut?«, fragte er und klang wie der Heuchler, der er war.
»Sie ist gesund, wenn Sie das meinen«, erwiderte Wolfe. »Bitte setzen Sie sich. Es ist nicht leicht, einem Vater solche Nachricht zu bringen, auch wenn Sie Schlimmeres von mir gewohnt sind.«
Hyperion setzte sich. Als Wolfe zum Absinth griff, tat er es ihm nach. »Ich will Sie nicht länger auf die Folter spannen. Ihre Tochter ist, wie gesagt, dem Anschein nach bei guter Gesundheit und wohnt keine Stunde von hier in Southampton. Sie lebt mit einem Mann zusammen, mit dem sie nicht verheiratet ist, und sie ist schwanger von ihm.« Wolfe atmete auf und griff erneut nach seinem Glas.
Hyperion saß still da und wartete auf einen Schrecken, doch keiner stellte sich ein. Wie Phoebe würde auch Chastity überstürzt heiraten müssen, und vermutlich würde es Gerede geben, aber war das gemessen an dem, was hinter ihnen lag, nicht lächerlich? Vielleicht war der neue Skandal im Hause Weaver der Stadt nicht einmal der Rede wert, und wenn es Geld kostete, wie es bei Phoebe Geld gekostet hatte, würde es sich irgendwo finden. Es hatte sich immer gefunden. Mildred war es, die es fand.
»Sie werden Ihre Frau ins Bild setzen wollen«, unterbrach Wolfe seine Gedanken.
»Ja, ja, natürlich«, stammelte
Weitere Kostenlose Bücher