Die Mondrose
Sie sei ohnehin seine Frau, sie brauche keinen Trauschein dafür.
»Aber ihr hättet Sicherheit. Ein verheirateter Mann muss für Frau und Kind sorgen, während ein Junggeselle sich einfach aus dem Staub machen kann.«
»Du sorgst für uns«, erwiderte Amelia. Dass er sie liebte, war ihr genug. Er war der einzige Mensch, der es je getan hatte, und gemeinsam würden sie ihr Kind lieben. Der bloße Gedanke, ihre Verbindung offiziell registrieren zu lassen, erfüllte sie mit derselben Furcht, die sie als Kind bei Gewittern gequält hatte. Sie wusste, es wäre das Ende. Man würde sie ausfindig machen und ihr alles rauben. Insgeheim befand sie, es sei schon ein Fehler gewesen, jenen Brief zu schreiben. Zwar musste die Mörderin froh sein, sie vom Hals zu haben, aber reizen durfte sie sie nicht. Wenn sie fortfuhr, auf sich aufmerksam zu machen, würde sie kommen, um sie zum Schweigen zu bringen.
Charles gab ihr nach. Es war ohnehin der einzige Punkt, über den sie stritten, in allem anderen waren sie ein Herz und eine Seele. Wenn Charles vom Straßenverkauf ihr Abendessen kaufte, wählte er genau das, was Amelia sich gewünscht hatte. Jedes Geschenk, das er ihr brachte, gefiel ihr, und wenn er etwas sagte, war es, als könnte man überhaupt nicht anders denken. Sie war glücklich, und es gab nichts, das sie belastete, keine Sorge um die Zukunft, nur die ständige Angst, ihr Glück könne ihr genommen werden.
Stattdessen wuchs ihr Glück. Charles fand eine weitere Arbeitsstelle. In einer anderen Fakultät des Instituts hatte irgendwer ein absonderliches Gerät zur Lichterzeugung gebaut, und aus London sollten etliche Leute anreisen, um es zu begutachten. Zu diesem Anlass hoffte das Institut den Status einer Universität zu erlangen, weshalb es Eindruck schinden und mehrere Säle neu tapezieren lassen wollte. Charles kam als Gehilfe der Tapezierer unter. Amelia gab nichts aufs Geld, aber Charles war so froh, dass seine Freude sie ansteckte. »Wenn das Institut zur Universität erklärt wird, könnte ich hier meinen Abschluss machen. O meine liebste Amelia, ich will wie ein richtiger Mann für euch sorgen, ich will, dass ihr alles bekommt, was ihr euch wünscht.«
»Wir wünschen uns dich«, sagte Amelia, schmiegte sich an ihn und fühlte sich in einer Muschel aus Liebe geborgen.
Und dann schlug eines Tages ein anderer an die Decke unter den Dielen. Woran sie erkannte, dass es nicht Charles war, wusste sie nicht – vielleicht, weil Charles nie um die Mittagszeit nach Hause kam. Mit jagendem Herzen floh Amelia in eine Ecke des Zimmers und zog alle Decken über sich. Für Stunden kauerte sie dort, bis endlich Charles’ Zeichen ertönte und sie sich mühsam aus der Starre löste. Vor Erleichterung weinte sie, als er sie in die Arme schloss. Sie sei eingeschlafen und habe schlecht geträumt, erzählte sie, aber jetzt sei alles wieder gut.
Er wirkte selbst verstört. Auf ihr Drängen versicherte er, es sei nichts, nur ein Mann, der ihn den Tag über verfolgt habe. »Er war aber völlig harmlos, er suchte jemanden und dachte, ich könne ihm helfen. Als ich ihm sagte, ich hätte keine Ahnung, zog er seiner Wege. Wir dürfen uns nicht so schnell ins Bockshorn jagen lassen. Was kann uns schon geschehen?«
Amelia lehnte unter der von der Sonne warmen Dachschräge und spürte, wie ihre Hände kalt wurden. »Wie hieß denn der, den er gesucht hat?«, fragte sie so beiläufig, wie sie konnte.
»Nicht der«, antwortete Charles, »sondern die. Er hat mich gefragt, ob ich eine junge Dame kenne, die Chastity Weaver heißt.«
Kapitel 47
Portsmouth, Southsea, Southampton, 30. September 1889
D en Pub in Sudewede gab es noch, auch wenn er gewiss zehnmal den Besitzer gewechselt hatte. Als Hyperion Wolfe dorthin bestellte, kam er sich albern vor, aber dem Detektiv schien die Idee zu gefallen. »Treffen wir uns also doch noch einmal hier«, hatte er gesagt. »Ich hoffe, es ist Ihnen in der Zwischenzeit wohl ergangen?«
»Vermutlich ist es das«, erwiderte Hyperion. Als er seinem Gegenüber verlegen zulächelte, kam es ihm vor, als läge ihre letzte Begegnung kein Jahrzehnt zurück. Er versicherte Wolfe, dass er ihn diesmal bezahlen werde – vielmehr seine Tochter werde es tun, denn sie sei es im Grunde, die ihre Schwester suchen lassen wolle.
»Und Sie selbst?«, hatte Wolfe gefragt, nachdem Hyperion ihm den Fall geschildert hatte. »Liegt Ihnen nicht auch daran, Ihre jüngste Tochter zu finden?«
Hyperion überlegte. »Vielleicht
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