Die Mondrose
Hyperion und überlegte, was Mildred würde wissen wollen. »Steht einer Heirat mit dem Vater des Kindes denn etwas entgegen?«, fragte er Wolfe.
Der wiegte den Kopf. »Es handelt sich um einen Studenten des Hartley College.«
Die Erwähnung des College schlug eine Saite der Erinnerung an. Horatio war am Hartley College tätig, und über Horatio hatte Ackroyd ihm heute früh etwas erzählt. Er hatte irgendeinen Generator gebaut, den er dem Spital übereignen würde, um die Operationssäle auszuleuchten. »Ihr Neffe ist ein Genie«, hatte Ackroyd gesagt. »Ich wette, Sie sind ziemlich stolz.«
Vielleicht hätte er das sein sollen oder sich zumindest für Horatio freuen, aber sooft er an ihn dachte, jagten ihm Schauder den Rücken hinunter. Die Nachricht, er werde das Zauberwesen Lydia Burleigh heiraten, hatte ihn mit Entsetzen erfüllt. Zweifellos tat er ihm Unrecht. Über Horatio hatte es eine Zeitlang geheißen, er sei geisteskrank, und später, er sei ein gewissenloser Wüstling, doch seit seiner Hochzeit hatte er alles getan, um sich von solchem Ruf reinzuwaschen. Er leistete Beachtliches auf seinem Gebiet, zeichnete Gelder für das Spital und unterstützte den Kampf seiner Frau, wofür er sich ständig Schwierigkeiten einfing. Dennoch glaubte Hyperion in seiner Gegenwart etwas Dunkles, Bedrohliches zu spüren, eine verborgene Seite, die Unheil bedeutete. »Physik?«, fragte er Wolfe zusammenhanglos. »Dieser Bekannte meiner Tochter – hört er Vorlesungen in Physik?«
»Nein, er bereitet sich auf ein Studium der Rechte vor. Seinen Unterhalt verdient er sich mit Hilfsarbeiten. Sie haben es also mit einem jungen Mann ohne Vermögen zu tun. Trifft Sie das hart?«
»Überhaupt nicht«, erwiderte Hyperion erleichtert.
»Das freut mich. Auch wenn er Ihre Tochter in diese unmögliche Lage gebracht hat, erscheint er mir als ein Mensch mit Gewissen und Pflichtgefühl.«
»Ich danke Ihnen«, sagte Hyperion. Die Vorstellung, diese ganze Geschichte Mildred erklären zu müssen, missbehagte ihm, aber fraglos hätte es schlimmer kommen können. Und Esther würde sich vermutlich freuen. Chastity ging es gut, das würde Esther das Wichtigste sein.
»Ich habe Ihnen alles aufgeschrieben. Der junge Mann heißt Charles Ferdinand Ralph, die Adresse finden Sie in den Papieren.« Im Aufstehen übergab Wolfe ihm einen schmalen Umschlag. »Nur eines noch.«
»Was denn?«
»Sie hatten dieses Mal recht«, erwiderte Wolfe. »Ihre Tochter wollte nicht gefunden werden. Wenn ich mir einen Rat erlauben darf. Machen Sie ihr so schnell wie möglich begreiflich, dass Sie ihr den Fehltritt vergeben. Ihre Chastity ist beileibe nicht das erste entlaufene Mädchen, das ich ausfindig mache, und bange war ihnen allen. Ihre Tochter aber hat sich benommen wie ein Mensch in Todesangst.«
Ihre Mutter ließ den Suppenlöffel sinken und drehte sich um, als Lydia den Kopf in die Küchentür steckte. »Wohin gehst du?«
»Ich nehme den Zug nach Southampton«, antwortete Lydia. Sie hatte so viel geweint, dass ihr die Kehle bei jedem Wort schmerzte, und ihre Augen erschienen ihr wie dick verschwollene Schlitze.
»Das ist gut«, sagte ihre Mutter und nahm das Rühren der Suppe wieder auf.
Trotz ihres erbärmlichen Zustands versuchte sie ein Lachen. »Das sagst ausgerechnet du mir?«
»Ja«, erwiderte die Mutter. »Ich wollte nicht, dass du diesen Kerl heiratest, aber du wolltest es unbedingt, und du bist kein dummes, blauäugiges Ding. Wenn es irgendein Kerl überhaupt wert ist, geheiratet zu werden, dann dieser. Du bist mein Mädchen, ich werde immer zu dir halten, und ob du deinem Mann allabendlich die Hölle heiß machst, kann mir gleichgültig sein. Aber in letzter Zeit bist du zu weit gegangen und gestern so weit, dass ich Angst bekommen habe. Du willst diesen Mann nicht verlieren, Lydia.«
Lydia umfasste ihr Gesicht mit den Händen, wie es Horatio tat, wenn er sie trösten wollte. Die Mutter hatte recht. Sie ging zu weit. Die ewigen Nackenschläge und Niederlagen, die sie an allen Fronten erlitt, trug sie nach Hause und ließ sie an Horatio aus. Dass er Erfolg um Erfolg einheimste, machte alles noch schlimmer, es schürte ihren Zorn, bis sie sich nicht mehr kannte. Horatio hielt still und ertrug sie, bis sie alles aus sich herausgeschrien hatte und sich in seinen Armen fallen ließ. Wenig später erwachte ihr Zorn von neuem, weil es so einfach für ihn war, Großmut zu zeigen, und so unmöglich für sie.
Es gab auch anderes. Noch immer.
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