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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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eigenen Bruder ein Kind.«

Kapitel 48
    Regen
    F ünf Wochen lang suchte Lydia nach ihrem Mann. Er kam nicht nach Hause, meldete sich bei keinem ihrer Freunde und erschien nicht in seinem Institut. Nach vier Wochen sprach sein Dekan mit ihr. »Ich habe niemanden in meinem Stab, den ich mehr schätze als Ihren Mann, und erst recht niemanden, der für den Fortschritt in diesem Land mehr zu leisten imstande ist. Sie wissen, dass man ihn an der Errichtung des Elektrizitätswerks beteiligen will, das letztlich ein Kind seines Geistes ist? Weil ich auf diesen Geist nicht verzichten will, gebe ich ihm noch zwei Wochen Zeit. Dass ihn etwas über die Grenzen des Erträglichen hinaus quälte, war nicht zu übersehen, und er hat eine Pause verdient. Wenn er aber nach Ablauf der Frist nicht zur Arbeit erscheint, muss ich auf ihn verzichten, so weh es mir tut.«
    Lydia wünschte, sie wäre früher hergekommen, um die Welt, in der Horatio seine Tage verbrachte, kennenzulernen. Sie wünschte, sie hätte bemerkt, was anderen ins Auge stach – dass ihr Mann sich quälte, dass er am Ende seiner Kraft war.
    »Hat er Ihnen etwas gesagt …«, begann sie, doch der Dekan unterbrach sie.
    »Ihr Mann gehört nicht zu den Menschen, die mit anderen mehr als das Unvermeidliche sprechen. Das wissen Sie zweifellos am besten.«
    Mit mir hat er mehr als das Unvermeidliche gesprochen, dachte Lydia. Er hat mit mir gelacht und geweint, mir anvertraut, warum er im Schlaf stöhnt, und mir gesagt, dass er mich über alles auf der Erde liebt.
    Sie ging zurück in das Haus, das er gekauft hatte, damit ihre Liebe darin leben konnte. Spuren dieser Liebe fanden sich in jedem Winkel, alberner Kleinkram, den er ihr mitgebracht hatte, Zettel, die er überall anklemmte, ehe er morgens das Haus verließ, ein Strumpfband, das mit gierigen Fingern abgerissen und unters Bett geworfen worden war, und sein Federhalter, um den er Haar aus ihrem Kamm gewickelt hatte. Als der Oktober vorüber war, begann es zu regnen und hörte nicht mehr auf. Im letzten Herbst hatte Hagel ein Loch ins Dach geschlagen, das Horatio, um den Dachdecker zu sparen, selbst geflickt hatte. Jetzt saß Lydia stundenlang unter der Flickstelle, durch die kein Regen mehr fiel, und vermisste sie beide, Horatio und den Regen.
    Vielleicht würde sie ihn nicht wiedersehen. Vielleicht hatte er eine Passage auf einem Emigrantenschiff gekauft und ließ Portsmouth hinter sich wie Esthers Schwester Phoebe. Die war in jener furchtbaren Septembernacht, nachdem der Detektiv Chastity gefunden hatte, zu Esther gelaufen, ihren fiebernden Sohn auf den Armen. Esther war nicht daheim gewesen, aber ihr Mann hatte Phoebe eingelassen und einen Arzt geholt. Phoebes Sohn hatte überlebt. Als Esther nach Tagen nach Hause kam, hatte Phoebe sie gebeten, ihr Geld zu geben. Sie werde nicht zu ihrem Mann zurückgehen, der sie mit dem kranken Kind hatte sitzen lassen, um in der Stadt seinen Rest von Verstand zu versaufen. Auch zu ihrer Mutter, die sie verachtete, weil sie aus ihrer Ehe keinen Erfolg machen konnte, werde sie nicht gehen. »Mir wäre um ein Haar mein Kind gestorben«, sagte sie. »Dass ich meine Mutter enttäusche, wird dagegen zur Lappalie.«
    Esther, die von den Ereignissen um Chastity noch immer wie erschlagen war, hatte Phoebe gegeben, was sie wollte – Geld, um mit ihren Kindern, in die Vereinigten Staaten von Amerika auszuwandern. Was sie dort anfangen wollte, wusste sie nicht. »Ich weiß nur, dass ich hier nicht mehr leben kann.« So tat nun Phoebe, was Esther sich erträumt hatte, und fuhr auf einem Schiff der Neuen Welt entgegen. Würde einer von ihnen allen sie wiedersehen?
    Horatio aber konnte nicht weit von Portsmouth sein, denn er bezahlte die fälligen Rechnungen. Als Lydia nicht mehr wusste, wo sie ihn suchen sollte, erhielt sie von Emma, einer Prostituierten, der ihre Vereinigung geholfen hatte, einen Hinweis. Horatio hause in einem Zimmer in Sudewede. »Was immer er ausgefressen hat, ich tät ihn mir wieder nach Hause holen«, sagte Emma. »Ist doch ein allzu ansehnliches Mannsbild, und wenn du mich fragst, es gibt viel schlimmere.«
    Ja, ich frage dich, schrie es in Lydia. Sie wollte ihn sich wieder nach Hause holen, wollte das Leben zurück, das sie geteilt hatten und das selten und kostbar gewesen war. Sie hatte zu viel von ihm verlangt, und er war, wie ihre Mutter sagte, nicht so vollkommen, wie er gern für sie wäre. Aber ein feiner Mensch war er, bekämpfte seine Dämonen, ohne sich in

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