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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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niemanden zu sprechen«, knurrte Onkel Victor. »Weiß heute Nacht in dieser Stadt kein Mensch, was sich gehört?«
    Stumm reichte der Nachtportier Onkel Victor eine Karte. Onkel Victor betrachtete sie und stand auf. »Ich bin sofort zurück«, murmelte er, doch in den Worten lag keine Überzeugung. Gleich darauf ging er, ließ aber die Tür hinter sich offen.
    Horatio und Hedwig saßen schweigend da und hörten, wie die Schritte sich entfernten. Hedwig war sicher, Horatio müsse auch hören, wie ihr Herz gegen ihren Brustkorb hämmerte. Er sandte ihr einen Blick unter halb geschlossenen Lidern, stand auf und schloss die Tür. Statt wieder in den Sessel setzte er sich auf Onkel Victors Platz auf dem Sofa, so dicht bei ihr, dass gerade ein Dritter dazwischen gepasst hätte und sie die Wärme seines Körpers spürte. Sie hätte sogleich beginnen wollen, den Rat seines Vaters zu befolgen, sie hatte keine Angst, und doch war sie für einen Moment gelähmt.
    Er sah sie an. In seinen Augen glitzerte eine Kälte, die sie schaudern ließ und sie zugleich zu schmelzen schien. »Na los«, sagte er. »Küss mich. Das wolltest du doch.«
    »Willst du es nicht?«
    »Nein«, antwortete er. »Aber das hat dich bisher nicht geschert. Warum also jetzt?«
    Sie tat es. Floss ihm entgegen, auf den Platz, auf den ein Dritter gepasst hätte, und noch näher zu ihm. Seine Lippen waren feste rotbraune Schwünge. Sie presste ihre darauf. Sein Vater hatte ihr erklärt, was er tun würde, aber er tat nichts davon, umarmte sie nicht und schloss nicht einmal die Augen, während er sich von ihr küssen ließ.
    Ihr machte es nichts aus. Nichts machte ihr etwas aus, es war alles himmlisch, sie musste es ganz haben, konnte nicht warten. Sie küsste ihn wieder. Holte immer nur Atem und küsste ihn noch einmal. Aufhören ihn zu küssen konnte sie nur, weil sie ihn sehen wollte, als sie ihm Rock und Weste hinunterstreifte, die Haut, das Spiel der Muskeln, die durch den feinen Hemdstoff schimmerten. In seine Schultern schnitten straff die Träger, die die Hosen auf den schlanken Hüften hielten. Sie riss ihm alles hinunter, zuletzt das Hemd, und war überwältigt von dem, was sie sah. Es war das, was sie gebraucht hatte, sie würde es sich einverleiben, wieder und wieder, sie würde unersättlich sein.
    Er zog sie nicht aus. Sie musste es selbst tun, während er still dasaß und sie mit seinem Blick, in dem Eis klirrte, musterte. Dann stieß sie ihn nieder und fiel über ihn her. Der Geschmack seiner Haut berauschte sie, ließ blitzende Bilder in ihrem Kopf kreisen. Sie grub die Hände in ihn, dann die Zähne, presste sich auf ihn, als könnte sie sich selbst in ihn graben. Er lag lange still und tat nichts, dann hob er träge die Hüften und vereinte sie.

    Wieder stand sie in der dunklen Halle und hatte doch gedacht, sie würde nie mehr einen Fuß in dieses Haus setzen. Wie oft hatte sie das im Lauf der Jahre schon gedacht? Wenn es in ihrem Leben zum Schlimmsten kam, fand sie sich immer hier.
    Leise Schritte hallten vom anderen Ende des Raums herüber. Er machte kein Licht. Als er sie erspähte, blieb er stehen. »Sie können sich schlafen legen«, sagte er zu seinem Nachtportier, sah ihn aber nicht an, sondern durchs Dunkel hinüber zu ihr. »Falls heute Nacht noch etwas anfällt, kümmere ich mich selbst darum.«
    »Sind Sie sicher, Sir?«
    »Gehen Sie«, knurrte er, und dann standen sie beide still, zehn Schritte voneinander getrennt, bis der Portier gegangen war.
    »Was willst du?«, fragte er.
    Mildred konnte keine Antwort geben, weil ihr war, als würde ihr Leben an ihr vorüberrauschen. Ein Tag auf dem Bahnhof, der bald dreißig Jahre zurücklag, eine Nacht im Schneeregen, als im schwarzen Wasser des Solent die Welt unterging. Ein vor Kälte gleißender Morgen, an dem sie diesem Mann in die Augen gesehen und erkannt hatte: Er liebt mich. So wie er wird nie wieder ein Mensch mich lieben.
    Und dann noch eine Nacht. Eine einzige. Lieben, so dass nichts anderes vonnöten oder auch nur denkbar war. Am Morgen danach hatte er zu ihr gesagt: »Bleib bei mir, Mildred. Lass mich nicht wieder allein. Alles andere findet sich.«
    Sie war gegangen, ohne sich umzudrehen. Fünf Wochen später hatte sie Hyperion mit Schuldgefühlen und schwerem Port betrunken gemacht und nach Wochen behauptet, er habe in der verlorenen Nacht mit ihr Chastity gezeugt. Wenn es ein Sohn ist, spielt die Lüge keine Rolle, hatte sie sich eingeredet. Wenn Hyperion einen Sohn von mir

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