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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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Tanne kaufen und Sarah, die Köchin, eine Gans rösten lassen. Die nutzlosen Ausgaben taten ihm weh. Statt Geld für einen Braten zu verschleudern, an dem zwei kümmerliche Esser sechsmal satt geworden wären, hätte er besser den Bediensteten die Weihnachtskisten reichlich befüllt. Und statt vor einem mit Tand behängten Baum zu hocken, hätte er sich zum Dienst im Spital melden sollen. Fergus Vernon lag krank. Der alte Mann hatte seine Kräfte ausgebeutet, er würde vielleicht nicht mehr genesen, und ausgerechnet jetzt schlugen die Geißeln des Winters unbarmherzig zu – Diphtherie, Influenza, Pneumonie. In den Krankensälen wurde jede Hand gebraucht.
    Er aber, Dr. Hyperion Weaver, der unter Eid gelobt hatte, Kranken zu helfen, saß behaglich am Feuer, beglotzte Spielzeug, das kein Kind aus den Zweigen pflücken würde, und naschte Backwerk, das ihm nicht einmal schmeckte. Warum ließ er sich dazu hinreißen, obwohl er sich Jahr um Jahr schwor, es nicht zu tun? Um seiner Großmutter willen, um sich von ihr keinen Tadel einzuhandeln? Großmutter Nell aber war schon vor Stunden hinüber ins Altenteil gegangen. Sie hatte an der Gans nur gepickt und die Tanne keines Blickes gewürdigt. Und ihrem Tadel entging er ohnehin nicht. Im Vergleich mit seinem Bruder mochte Hyperion für Nell das kleinere Übel darstellen, doch das änderte nichts daran, dass sie beide verachtete.
    Hyperion sah durchs Tannengrün nach dem Fenster, auf dessen Sims eine Kerze brannte. Er hatte einen Klumpen in der Kehle, hatte Priscilla Kaffee bringen lassen und rührte ihn nicht an. Früher hatte es hier ein Kind gegeben, das mit staunenden Augen vor dem Baum stand, bis es die Erlaubnis erhielt, sich Geschenke aus den Zweigen zu pflücken. Vielleicht betrieb er deshalb noch immer solchen Aufwand um die Weihnacht. Weil er die Zeit, in der er selbst jenes Kind gewesen war, nicht verloren geben mochte. Die Zeit, in der ein Mensch ihn geliebt hatte. Ihn, Hyperion. Ohne etwas zu erwarten, ohne etwas zu bedauern, als wäre er vollkommen, so wie er war.
    Seine Mutter hatte ihn auf solche Weise geliebt. Amelia. Womöglich bekam es einem schlecht, so geliebt zu werden, denn hatte man den Liebenden erst verloren, war einem kein Tag mehr ohne ein diffuses Heimweh vergönnt.
    Seine Mutter hatte darauf bestanden, dass ihr Haus, Mount Othrys, einen Weihnachtsbaum brauchte, wie die königliche Familie ihn hatte, dass es ihrem Prinzen nicht daran fehlen durfte. Ihr Mann, der sie anbetete, hatte ihr Verfügung über sein Geld erteilt, und sie hatte es mit vollen Händen ausgegeben, um ihren kleinen Jungen glücklich zu machen. Hatte sie je anderes im Sinn gehabt als ihn und sein Glück? Hatte sie ihn je angesehen, ohne die Arme auszubreiten, noch als er sie um einen halben Kopf überragte? Auf einmal sah er Hector vor sich – hatte auch für ihn etwas in der Tanne gehangen? Amelia hatte Hector nie schlecht behandelt, sie war kein Mensch gewesen, der andere schlecht behandelte. Sicher hatte sie einfach zuweilen vergessen, dass Hector existierte – weil sie unentwegt an ihn, Hyperion, dachte.
    Der Klumpen in seiner Kehle war zum Stein geworden. Es nützte nichts, sich zu sagen, ein Mann dürfe sich nicht so nach seiner Mutter sehnen, es traf ihn immer aufs Neue wie ein Keulenschlag – das Wissen, dass die Mutter nicht mehr in der Welt war und dass es daher keinen Menschen mehr gab, den er glücklich machte.
    Hatte er dem abhelfen wollen, als er am Nachmittag in einen Korb gestopft hatte, was Keller und Kammern hergaben, um ihn nach Milton’s Court zu tragen? Vermutlich hatte Max, der dem Haushalt als Kutscher, Pferdepfleger und Gärtner diente, gehofft, die Gaben seien für ihn bestimmt. Er hatte Kinder zu füttern, und die Enttäuschung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Das Mädchen Mildred hingegen war nicht einmal daheim. Wie ein Tölpel hatte Hyperion gewartet, bis er den Korb schließlich einem verwachsenen Knaben überließ und ging.
    Was hatte er sich versprochen? Seegrüne Augen, die vor Dankbarkeit leuchtend zu ihrem Wohltäter aufblickten? Scham überfiel ihn. Er zwang sich, aufzustehen, um die Kerze auszublasen. Nach Priscilla würde er nicht läuten, damit sie den Kaffee abräumte – mochte das arme Ding sich ihrem freien Tag entgegenträumen. Gern hätte er sich selbst schlafen gelegt, doch sein Geist war erschöpft und hellwach zugleich.
    Er stellte eben das Geschirr zusammen, als es mit donnernder Wucht an der Tür hämmerte. Wie war das

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