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Die Mondrose

Die Mondrose

Titel: Die Mondrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Helmin
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schlug. Lässt du wohl los? Sei doch tapfer, Kerl.
    Sich zu der Toten legen und weinen wollte er. Sie umarmen, die Wärme, die aus ihren Gliedern floh, festhalten. Furchtsam tasteten seine Finger nach der Ader am Hals, da öffnete die Frau die Augen. Hyperion erstarrte. Unter gebogenen Wimpern sah ein Mensch ihn an, ohne etwas zu erwarten, ohne etwas zu bedauern, als wäre er vollkommen, so wie er war. Glasklar fand er sein Bild in ihren Augen gespiegelt. Wie in Amelias Augen. Leise rief er sie beim Namen. Er hatte es in Jahren nicht getan.
    Der schöne Mund verzog sich, und die Augenwinkel zuckten. Hyperion war jetzt sicher, dass die Kranke unter Schmerzen lächelte.

    Die Berührung war anders. Sachte, behutsam. Von Mildred mit ihren Löwenkräften konnte die zarte Umarmung nicht stammen. War jenes Wohlgefühl nicht irdisch, lag sie in den Armen des Todes? Daphne spürte, wie ihr Herz sich sträubte. Es ist das Beste für Milly. Aber es tut weh. Ich hatte das Leben lieb. Den Frühling. Wenn man von einem Tag zum andern nicht mehr friert und die Luft anders riecht. Auf einmal wurde der Drang, die Augen zu öffnen und sich noch einen Blick zu stehlen, übermächtig. Der Tod streichelte sie, ertastete mit schwerelosen Fingern ihren Hals. Mit einem Ächzen hob Daphne die Lider.
    Das Gesicht, das sie sah, gehörte nicht dem Tod. Daphne betrachtete jeden Zug und prägte ihn sich ein. Wie schön es ist. Seine Augen waren unbewegt, und während Daphne hineinsah, fiel ihr ein, wie Mildred ihr erzählt hatte, in Australien falle niemals Regen. Ich will nicht nach Australien. Ich will nicht sterben. Von diesem Grau vom Sommerregen will ich nicht weg.
    Die grauen Augen blieben still, auch als der Mann etwas flüsterte. Ein Liebeswort. Sommerregenweich. Daphne wollte die Hand heben und seine Wange berühren, die Traurigkeit, die sie in seinen Augen las, lindern. Den Fremden liebkosen. Er war ja nicht fremd. Er war ihr gleich. Dir ist das Leben lieb wie mir, aber genau wie mir fehlt dir die Kraft, es mit ihm aufzunehmen. Sie hatte kaum zu Ende gedacht, als die Krankheit die Übermacht gewann. Das Gesicht vor ihren Augen verschwamm. Durch ihren Schädel donnerte der Zug, mähte jeden Gedanken nieder.
    Der Mann ergriff ihre Hände. Mit eiserner Macht riss der Tod an ihr, und der Mann hielt sie an seinen Händen im Leben. »Ich lass dich nicht los«, hörte sie ihn durch das Rattern des Zuges flüstern. »Diesmal lass ich nicht los.«

Kapitel 7
    Jahreswechsel
    D er Kutscher, der den Schlag für sie geöffnet hatte, wollte nach dem Gepäck greifen, aber Mildred riss es ihm weg. Sie zog es vor, niemandem zu trauen. Nur Hyperion. Den vornehmen Namen, der Klasse und Bildung verriet, sprach sie im Geiste ständig vor sich hin. Hyperion. Er konnte nicht hier sein, um sie zu empfangen, war wie so oft bei Daphne im Spital, weil er ahnte, dass er ihr damit den größten Dienst erwies. Dafür, dass sie Daphne bei ihm in guten Händen wusste, war sie ihm dankbarer als für alles Übrige.
    Noch in jener Nacht hatte er einen Wagen aufgetrieben und war mit Daphne ins Spital gefahren. »Ich hole Sie hier weg«, hatte er Mildred auf der Stiege gelobt. »Wenn Ihre Schwester gesund wird, nehme ich Sie in mein Haus.« Weiterer Worte bedurfte es nicht, den Rest las Mildred ihm vom Gesicht. In der folgenden Woche war er allabendlich gekommen, um ihr über Daphne Bericht zu erstatten. Dass sie die Schwester nicht sehen durfte, kam sie hart an, doch im Spital waren Besuche untersagt. Sie tröstete sich damit, dass alles Menschenmögliche für sie getan wurde. Hyperion weiß: Wenn er meinen Sperling verliert, verliert er auch mich.
    Und dann war er eines Abends in der Fahrt aus der Kutsche gesprungen, die Wangen wie bei einem Jungen gerötet und die Hemdschöße aus den Hosen gezerrt. Er hatte Mildred gepackt und herumgewirbelt. Da er nur ja nicht vergessen sollte, dass sie ein Mädchen von Anstand war, befreite sie einen Arm und schlug ihn auf die Wange, doch war dies zweifellos die mildeste Ohrfeige, die sich je ein Mann von ihr gefangen hatte. Höchst seltsam war das. Immer hatte sie sich ihrer Haut gewehrt und war mit Kerlen umgesprungen, wie es ihnen zukam, aber diesem Mann weh zu tun tat ihr selbst weh. So sehr, dass ihre Finger sich zur Faust ballten.
    Verlegen lachte er auf und hob die Hand ans Gesicht. »Sie ist überm Berg.« In seinem Flüstern zitterte Jubel. »Unsere Daphne wird leben, Mildred.« Zwar hatte Mildred ihm nicht gestattet, sie

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