Die Mondrose
die Glieder schlotterten und das Klappern ihrer Zähne ihr im Kopf hallte. Als würde der Zug durch ihr Hirn rauschen, mit seinem ewigen Geratter: So kalt, so kalt, so kalt.
Milly war gegangen, um Arbeit zu suchen. Wie tapfer sie war. Um vor Daphne zu verbergen, dass sie verloren hatten, zog sie jeden Morgen los und putzte die Klinken der Arbeitsvermittler. Daphne wollte auch tapfer sein, nur das eine Mal. Der Schwester verschweigen, dass es ihr schlechter ging, dass sie sich zu kraftlos fühlte, um nach dem Glas Wasser neben ihrem Bett zu hangeln. Dass sie fror, obgleich Mildred alle Kleidungsstücke über sie geworfen hatte. Die Laken, die vor Schweiß klebten, hatte Mildred vom Bett gezogen, um sie im eisigen Wasser zu waschen. Eine Heldin war sie, ihre Milly-Milly. Daphne wollte ihr das Leben nicht noch schwerer machen.
Schon gar nicht zur Weihnacht. Bis sie nach Hause kommt, geht es mir besser, nahm sie sich vor. Ich werde aufstehen, das Bett richten und Herrn Victor um Tee bitten. Dann aber war es ihr immer übler ergangen, so dass an Aufstehen nicht zu denken war.
Stattdessen war Herr Victor zu ihr gekommen. Im Schlafsaal redeten sie über ihn. Ein Deutscher sei er, habe im Gefängnis gesessen und sei hier, weil ihm in seiner Heimat kein Mensch mehr Arbeit gab. Seht den Hunnen doch an, hörte Daphne ihre Bettnachbarn tuscheln, der hat mit bloßen Fäusten einem den Garaus gemacht, deshalb saß er im Loch. Und Weaver, der Teufel, bezahlt ihn, damit er’s mit uns genauso macht. Mildred, die vom Tratsch wenig mitbekam, weil sie ständig unterwegs war, beschimpfte Herrn Victor als Rohling, und gewiss hatte sie recht, aber Daphne hatte ihn immer nur hilfsbereit und freundlich erlebt.
Er hatte ihr Milch gebracht und aus Mark gekochte Brühe. Jeder Schluck bereitete ihr Qualen, doch seine liebenswürdige Geste konnte sie unmöglich zurückweisen. »Es ist schon besser«, versicherte sie ihm, wobei ihr schwarz vor Augen wurde. »Nur etwas schlafen will ich. Wenn Mildred kommt, bitte sagen Sie ihr, sie muss sich nicht sorgen.«
War dies das letzte Mal gewesen, dass sie ihre Stimme gehört hatte, die gequetschten Laute ihre letzten Worte in der Welt? So schlimm war vielleicht Sterben nicht – nie mehr Luft holen müssen, während es einem die Brust zerriss, und Mildred keine Last mehr sein. Trotzdem hielt sie den Gedanken an die Schwester kaum aus. Wenn ich dich verliere, ist mein Leben zu Ende, hatte Mildred ihr Hunderte von Malen beteuert. Du bist alles, was ich habe.
Dabei hätte sie froh sein sollen. Ohne sie hätte Mildred längst einen Mann gefunden, keinen Wildfremden, dem sie sich opfern wollte, sondern einen, der ihr Liebe angedeihen ließ, wie sie es verdiente. Ich wünsch dir so sehr, dass du glücklich wirst. Dass du dich mit mir nicht mehr abschleppen musst. Es gelang ihr nicht, weiterzudenken, weil eine neue Welle von Übelkeit sie überrollte. Ihr war nicht länger schwarz vor Augen, sondern rot, und jeder Hilfeschrei verglühte in der Hitze. Ihre Gurgel schien ein Feuerball, der auf und ab zuckte und ihr die Kehle versengte. Ob ihre Qual Stunden dauerte oder Minuten, wusste sie nicht, denn ihr kam sie unendlich vor.
Irgendwann drang wieder etwas an ihr Ohr. Mildreds Stimme. »Mein Sperling«, rief die Schwester wie durch Wände. »Mein Süßes, verzeih mir doch, ich hab dich mehr als mein Leben lieb.«
Daphne fühlte sich gepackt und an den Leib der Schwester gepresst. Jede Bewegung verschlimmerte die Schmerzen, und der Versuch zu sprechen scheiterte. Dabei hätte sie sprechen müssen, Mildred sagen, dass sie ihr nichts zu verzeihen hatte und dass sie sie sterben lassen sollte. Vergessen und neu beginnen.
Die Schwester ließ sie aufs Bett zurückgleiten, warf sich über sie und weinte. Selbst Mildreds Weinen war stark, es hatte mit Daphnes Gewimmer nichts gemein. »Miss Mildred«, warf jemand ein. Der kleine Pole, der seine Familie ernährte, indem er Botendienste für Mr Weaver erledigte. »Das hier ist abgegeben. Für Miss Mildred. Von feine Herr Doktor, Bruder von Mr Weaver.«
Daphne war zu zermürbt vom Schmerz, um länger zuzuhören. Mit letzten Kräften flehte sie eine Ohnmacht herbei, nur eine kurze Pause von der Hölle. »Ein Arzt! Mr Weavers Bruder ist Arzt. Er muss kommen!« Dann glaubte Daphne in kühle, saubere Tücher zu sinken und darin zu verschwinden, von all dem Schreien, den Schmerzen und dem Feuer fort.
Hyperion hatte, wie es die Sitte gebot, das Mädchen eine mannshohe
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