Die Mondrose
zurechtzufinden und so viel wie möglich in Erfahrung zu bringen. Sie hätte zufrieden sein sollen. Das Zimmer unter der Stiege, das Priscilla für sie und Daphne hergerichtet hatte, war warm und heimelig. Auf dem Bett weiche Decken, an der Wand eine Kleidertruhe und auf dem Tisch eine Öllampe mit gläsernem Kolben. Nur ein zweites Bett fehlte, doch würde gewiss eins aufgestellt werden, sobald man Daphne aus dem Spital entließ.
Zum ersten Mal im Leben bekam sie reichlich zu essen. Dinge, die sie kaum je probiert hatte, wurden ihr auf den Teller gehäuft und mit Sauce übergossen, saftige Bratenstücke und fette Sülzen, Pasteten, die unter der Teigdecke brodelten, und zarte Suppen, in die Priscilla und Sarah nur die Spitzen ihrer Löffel tauchten. Pudding, der von Früchten schwer war, weißes Brot und eine Butter, die so unwiderstehlich schimmerte, dass sie einmal den Finger hineinstach und ihn unter entsetzten Blicken sauber leckte.
Nach zwei Wochen ertastete sie auf ihren Hüften Fleisch, das den Rock spannte. Sie fror nie mehr. Selbst unter der Stiege war das Haus beheizt, und jeden Freitag wurde in der Waschstube ein Zuber Wasser erwärmt, in dem sie ihr Bad nehmen konnte. Ein Stück Seife bekam sie dazu, und ihre Kleidung wurde mit den Kleidern der Herrschaft außer Haus gegeben, um frisch gebügelt und gestärkt zurückzukehren. Zu ihrem Dienstantritt hatte sie zwei graublaue Kleider mit weißen Krägen erhalten, dazu Schürzen und Hauben, die wie neu wirkten. Mildred genoss es, sich am ganzen Leib sauber zu wissen und abends in ein duftendes Bett zu steigen.
Ihre Arbeit war leicht. Sie hatte die Räume in allen Stockwerken staubfrei zu halten, was seine Zeit dauerte, weil so viel Zierrat herumstand und das Haus wahre Fluten von Zimmern enthielt. Wie konnten ein einzelner Mann und eine Greisin, die zudem ihr Altenteil am Ende des Gartens besaß, dieses gewaltige Refugium bewohnen? Anfangs verlief Mildred sich mehrmals auf den Gängen. Mit der Zeit aber gewann sie jedes Zimmer lieb. In Whitechapel hatte sie Dienstmädchen gekannt, die für Bummelei nicht nur Schelte, sondern Hiebe bezogen. In Mount Othrys jedoch ließ man ihr alle Zeit der Welt.
Mount Othrys. So hieß das Haus. Nie hätte sie zugegeben, dass sie nicht wusste, was der Name bedeutete. Am Vordach des Portals gab es ein marmornes Fries, darauf sich ein Mann krümmte, der offenbar starb. Es war ein außerordentlich schöner Mann. Mildred hatte Mühe, sich Blicke nach ihm zu verkneifen, zumal er außer einer Art Laken keine Kleider am Leib trug. War dieser Mann Othrys, ein Held aus einer Sage? Daphne hatte Sagen gelesen. Wenn sie herkam, würde Mildred sie fragen, vor Priscilla und Sarah aber gab sie sich keine Blöße.
Dabei taten die beiden ihr nichts Böses. Sie benachteiligten sie nicht bei der Vergabe der Speisen und teilten ihr keine widerwärtige Arbeit zu. Im Gegenteil. Die Abfallkübel und Kamine des Hauses leerte Priscilla, und um die Notdurft kümmerte sich ein Kerl namens Will, der in der Frühe kam, Kohle und Brennholz vor die Öfen schleppte und dann wieder verschwand. Um die Küche kümmerte sich Sarah, die auch zum Markt ging und Lieferungen in Empfang nahm. Für Mildred blieb das Ausbürsten der Teppiche, das kaum Mühe bereitete, da weder Mensch noch Tier sie verdreckte, ein wenig Wischen und Fegen und eine Reihe von Herrenschuhen, die ihr zum Polieren hingestellt wurden. Hyperions Schuhe.
Etwas in ihr begehrte auf. Auf Knien zu liegen und mit Wichse und Schuhbürste Hyperion zu Diensten zu sein erschien ihr falsch. Sie wollte Achtung und Bewunderung von ihm. An ihren Lippen sollte er hängen wie die Herren in Daphnes Romanen, irgendwann vor ihr auf ein Knie sinken und sie um ihre Hand bitten. Tat man dergleichen vor einer Hausmagd, die einem die Stiefel wienerte? Mildred kannte sich mit dem Leben der oberen Klassen nicht aus, doch dass Hyperion, wenn er ihr verfallen sollte, sie bei niederer Tätigkeit nicht erwischen durfte, wusste die Frau in ihr. Und die Frau in ihr hätte gern dem erlesenen Stiefel einen Tritt versetzt, dass der bis ans Ende des Ganges flog.
Hätte sie nicht zufrieden sein sollen? Schlucken, dass Sarah und Priscilla sich für Besseres hielten und dass die Großmutter sich betrug, als wäre Mildred Luft? Mildred war nicht zufrieden. Sie hätte die Spitzen hinnehmen können, hätte sie nur die Möglichkeit erhalten, sich ihrem Ziel entgegenzukämpfen. Sie hatte immer gekämpft. Man mochte von ihr
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