Die Mondrose
einander küssten, ein. Chastity. Sie hatte es ihm gesagt, obwohl er es schon wusste. »Ich heiße nicht Amelia, Liebster. Bitte sag zu mir Chastity.«
Er allein hatte alles gewusst. Mildred und sein Vater hatten es ihm gesagt, damit er wie ein Rasender floh, ohne ihr ein Wort zum Abschied zu lassen. Außer den beiden wusste es nur Esther, die ihr kleines Mädchen zu sich genommen und in Liebe aufgezogen hatte, obwohl ihr klar war, welche Schande an ihr haftete. Sie würde sie weiter lieben. Vor der Welt würde Selene Esther Ternans Tochter bleiben und in Sicherheit sein.
Danke, Mutter. Danke, dass du mein Mädchen beschützt hast. Wenn sie in New York waren, würde Chastity ihrer Mutter schreiben.
Die Nebel strichen über ihre Wangen, und dahinter lachte Charles’ Gesicht ihr voll Liebe entgegen. Was für ein Geschenk war es, dass sie diese Nacht auf dem Meer verbrachten, wo es vor und hinter ihnen nichts gab. Nur sie beide unter dem Himmel. Von der Erde weit fort. Dass die Kälte jäh anschwoll, eine Kälte, die sich ihr wie mit tausend Nadeln ins Fleisch grub, machte ihr nichts aus. Es war keine gewöhnliche Kälte, sondern die Kälte des Weltendes, und genauso fühlte sie sich – am Ende angekommen. In Charles’ Armen. Am Ziel.
Ein gewaltiger Ruck erschütterte das Schiff und warf Charles und Chastity zu Boden. Sie stieß sich die Schulter, und gleich darauf traf ein Geschütz sie am Kopf, aber diesmal hatte sie keinen Augenblick lang Angst. Sie hatte das alles ja schon einmal im Hafenbecken von Southampton erlebt und wusste, dass sie sicher und geborgen wie ein Säugling war. »Hast du dich verletzt, mein Liebster?«, fragte sie ihn zärtlich. »Du musst keine Angst haben. Wir sind doch unsinkbar!«
Charles setzte sich auf und nahm das Geschoss in die Hände. Erst jetzt sah sie, dass die Planken um sie mit unzähligen kleineren Geschossen übersät waren. Sie glitzerten, als wäre über ihnen ein Stern zerbrochen. Charles ließ das große Geschoss fallen, als hätte es ihm die Hände verbrannt. Chastity streckte die Hand danach aus und verbrannte sich ebenfalls. Es war Eis.
Ihre Hände umfassten einander, während sie aufstanden und über die Reling hinweg nach der riesigen Masse blickten, die im Nebel hinter ihnen verschwand. »Was war das, Liebster?«
»Ich bin nicht sicher. Wie es aussieht, haben wir einen Eisberg gerammt.«
»Aber Eis ist nicht so fest wie wir, oder? Es schmilzt ja.«
»Nein«, sagte Charles, dessen schlanke, zärtliche Hände geholfen hatten, das Schiff zu bauen, »Eis ist nicht so fest wie wir.«
Zu diesem Zeitpunkt waren von der Nacht, die ihnen allein gehörte, nur noch wenige Herzschläge übrig. Sie hätten sich noch etwas sagen können, selbst in ein paar Herzschlägen lässt sich vieles sagen, aber es gab ja nichts, das etwas geändert hätte. Stattdessen gaben sie einander noch einen Kuss. Gleich darauf brach auf dem Deck zwischen den Rettungsbooten die Hölle los.
»Sie müssen aufstehen, Miss! Sie müssen jetzt wirklich aufstehen!«
Durch Schwaden von Benommenheit drang das dröhnende Klappern, mit dem jemand an Selenes Kabinentür rüttelte. Sie hatte Wein getrunken, bis sie sich erbrechen musste, und zwei von den Tabletten geschluckt, die Harry ihr gegeben hatte. Harry. Charles. Zugleich ihr Vater und ihr Onkel. Wein und Tabletten halfen nichts, trotz der pochenden Schmerzen, die an ihre Schläfen hämmerten – es war mit einem Schlag alles wieder da.
Das Gerüttel ging weiter, wie Hammerschläge gegen ihren Schädel. »Anordnung vom Kapitän, Miss. So öffnen Sie doch!«
Selene würde nicht öffnen, wer immer dort draußen war und etwas angeordnet hatte, wer immer noch mehr Wahn in die Ruine ihres Lebens tragen wollte. Was immer es noch geben konnte, es würde sie nicht berühren. Sie war unberührbar geworden – strikt wie ihr Schiff glitt sie in einem Meer aus Wahn voran. Ich bin das Kind eines Inzests. Wer kann mir noch etwas anhaben?
Schritte hallten über den Gang, und einen Moment lang hatte Selene das Gefühl, im Bett nach unten zu rutschen. Dann wurde das Rütteln unterbrochen, und der Mann, der draußen den Lärm verursachte, sprach zu jemandem, der offenbar herbeigeeilt war. »Ihre Tochter muss nach oben, Madam. Aber sie macht nicht auf!« Erst jetzt erkannte sie die Stimme des aufdringlichen Stewards.
Gleich darauf drehte sich der Schlüssel im Schloss. Licht aus dem Gang fiel in den Raum – das ewig brennende, üppige Licht, das der
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