Die Mondrose
wieder losließ. Lydia ließ ihn nicht los. »Du bist nicht krank, Horatio. Du bist nicht Jeckyll und Hyde, und du hast diesen Dreck nicht geschrieben.«
»Nein«, erwiderte Horatio ruhig. »Aber ich weiß, wer der Kranke ist. Und ihr wisst es auch.«
Ehe Esther zwei und zwei zusammenzählte, tat es Mildred. Auf ihr Gesicht trat ein Ausdruck, der Esther Schauder über den Rücken jagte. »Ich hätte dir das längst einmal sagen sollen«, wandte sie sich mit einer Stimme, die Esther nicht erkannte, an Horatio. »Ich habe dich falsch eingeschätzt. Du bist der einzige nützliche Mann, den diese Familie hervorgebracht hat. Sei so nett und nimm deine Damen mit hinüber ins Herrenzimmer. Ich lasse uns dort gleich Tee servieren, muss nur rasch noch einen Brief verfassen. Eine kleine Einladung, eine Sache von ein paar Augenblicken. Dann bin ich ganz für euch da.«
Es war die Mildred, die mit ihren Gästen im Hotel sprach, die Esther manchmal für eine Aufziehpuppe gehalten hatte, während sich der lebende Mensch dahinter verbarg.
»Ich würde lieber bleiben«, bekannte Horatio und hob skeptisch eine Braue, aber Lydia zerrte ihn am Arm.
»Jetzt komm schon. Lass sie tun, was immer sie nicht lassen kann. Ich brauche einen Drink.«
Kapitel 57
Nacht
N ie, nicht einmal in den Nächten am Bahnhof von Southampton hatte Chastity so gefroren. Ihre Zähne schlugen aufeinander, dass sie fürchten musste, sie könnten splittern. Zweimal war Charles gegangen, um ihr eine Decke zu holen, die er ihr wie damals um die Schultern schlang. »Dir wird nicht wärmer«, bemerkte er. Sein eigenes Gesicht sah aus wie überfroren, und seine Lippen waren blau und bebten. »Lass uns nach drinnen gehen. Eine der Bars ist sicher noch geöffnet.«
Aber Chastity wollte nicht in eine Bar. Sie wollte nirgendwohin, wo Menschen waren, wo irgendetwas war – mehr als tiefes Dunkel und klirrende Kälte, mehr als Sterne, die wie Eiszapfen funkelten, und stilles Rauschen, mit dem das Schiff das Meer durchschnitt. Mehr als Charles. Diese kälteste Nacht ihres Lebens, die schönste und schlimmste Nacht, gehörte ihnen. Diese einzige Nacht.
Sie hatte ihn wiedergefunden. Und einen Atemzug später hatte sie ihn wieder verloren, und diesmal so endgültig, wie nicht einmal sein Tod gewesen war. Sein Tod gehörte zu den vielen Lügen, diese aber aufgebracht von ihm selbst. »Ich habe Charles Ralph nicht mehr ertragen«, sagte er. »Also habe ich ihn umgebracht und aus seiner Leiche Harry Matthew gemacht.«
Es war das erste Mal, das Chastity dem Schrecken zum Trotz lachen musste. »Du bringst niemanden um«, hatte sie gesagt. »Nicht einmal die Fliege in unserem Zimmer, die uns vom Schlafen abhielt.«
Und ihre Mutter hatte auch niemanden umgebracht, was immer der Sohn der Pechmarie, Onkel Hector, erzählt hatte. Ihre Mutter liebte sie. Sie hatte ihr ihren Mann und ihr Kind weggenommen, um sie zu schützen – weil der Mann ihr Bruder war und es auf der Welt keinen Ort gab, an dem sie miteinander hätten leben können.
Auf der Welt keinen Ort. Auch jetzt nicht. Nicht einmal in der neuen Welt durften Schwester und Bruder, die ein Kind gezeugt hatten, beieinanderbleiben. Nur die kristallklare Nacht hatten sie, ihre Kälte und ihren Zauber. Chastity schmiegte sich an Charles, als wäre die Nacht ihre Ewigkeit. Er verstand sie sofort. »Ich werde dich immer lieben«, sagte er.
»Und ich dich. Egal, was aus uns wird.«
Aus ihnen wurde gar nichts. Aber sie besaßen noch einmal eine Nacht.
Auch von dem Kind würde sie sich trennen müssen, von ihrer geliebten Tochter, die in der Kabine lag und niemanden sehen wollte – starr vor Entsetzen über die Erkenntnis, ein Kind des Inzests zu sein. Sie durfte ja kein Kind des Inzests bleiben, nicht ihre Selene, die so klug und begabt war und der die Welt offenstand. In New York würde sie, Chastity, sie zu Phoebe bringen müssen, sie würde einmal etwas tun, das erwachsen war. »Phoebe«, würde sie sagen, »ich bringe dir mein Mädchen, das einen großen Schrecken erlitten hat. Bitte sorge für sie, bis sie stark genug ist, um heim zu ihrer Familie zu fahren.« Was danach mit ihr geschah, spielte keine Rolle. Nur auf dieses Ziel würde sie sich konzentrieren müssen.
Später. Wenn die Nacht vorbei war. Diese Nacht auf dem leeren Bootsdeck gehörte ihr und Charles. Er küsste sie, seine Lippen wie in einem Pelz aus Eis. Aus der Klarheit tauchte das Schiff in taumelnde Nebel. Sie hüllten Chastity und Charles, die
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